Page - 62 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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sich hier ein apokalyptisches Moment, indem die Engelsfigur auch als An-
spielung auf den Tag des Jüngsten Gerichts, auf ein Urteil Gottes oder auf
das Sterben gelesen werden kann. Diese Zweideutigkeit wird durch den
möglichen Verweis auf die «apokalyptische Himmelsfrau», einem wieder-
kehrenden Motiv christlicher Kunst, verstärkt. Im 12. Kapitel der Johan-
nesapokalypse, des letzten Buches der Bibel, wird beschrieben, wie Gott
einer bedrohten, kurz vor der Geburt ihres Sohnes stehenden Frauenfigur
Flügel verleiht, damit sie in die Wüste fliehen und sich vor einem Drachen
retten kann. In der Rezeption dieses Textes wurde diese Figur mit der Mut-
ter Jesu identifiziert. Vor dem Hintergrund dieser Verdichtungen und
Überlappung von Anspielungen und Motiven sind unterschiedliche Deu-
tungen von Rivollis Bild möglich: die Flügel als Rettung Gottes vor dem
Virus sowie eine Ankündigung der Apokalypse.
Zwischen Leid und Ho!nung
Ein weiterer, auf den ersten Blick vielleicht weniger expliziter Verweis auf
die christliche Tradition findet sich in der Komposition des Bildes, die
stark an andere Darstellungstypen von Maria erinnert. Dabei vereint das
Bild zwei verschiedene Motive in sich: zum einen Maria mit dem Jesus-
kind. Dabei handelt es sich um eine Form der Mariendarstellung, die seit
dem Hochmittelalter verbreitet ist und die Maria als Figur der Barmherzig-
keit und der Zuflucht, die sich in mütterlicher Liebe zu den Menschen
herabneigt, zeigt. Dadurch werden Fürsorge und Geborgenheit symboli-
siert: Italien befindet sich in den Armen einer fürsorglichen Mutter. Diese
Deutung wird von den Engelsflügeln unterstützt. Italien wird von einer als
Maria mit Engelsflügeln stilisierten Ärztin versorgt, wodurch Ho!nung
oder gar eine eschatologische Verheißung ausdrückt wird.
Zum anderen erinnert die Komposition an das Motiv der Pietà, der trau-
ernden Maria mit dem toten Jesus im Arm (Abb. 11). Diese mater dolorosa,
auf Deutsch auch als «Schmerzensmutter» bezeichnet, stellt einen Bezug
zur Passionsgeschichte her und lädt die Betrachtenden ein, das Leiden Ma-
rias beim Anblick ihres verstorbenen Kindes mitzuerleben. Vor diesem
Hintergrund betrachtet, hebt das Gra"ti das Leiden der italienischen Nati-
on in der Corona-Pandemie hervor. Italiens Silhouette ist blutrot, es liegt
im Sterben. Die Nation schwebt zwischen Leid und Ho!nung, sie liegt im
Sterben, aber auch in den fürsorglichen Armen einer Mutter – der Mutter
Gottes. Au!ällig ist, dass Italien den Platz einnimmt, an dem sich in Mari-
endarstellungen üblicherweise Jesus befindet. Dabei ist Italien zugleich der
sterbende Jesus und das neugeborene Jesuskind. Die italienische Nation
Krise und Solidarität im ö"entlichen Raum
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Title
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Paradoxien einer Krise
- Author
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Editor
- Anna-Katharina Höpflinger
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 134
- Categories
- Coronavirus
- Medien
Table of contents
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133