Page - 6 - in Zipper und sein Vater
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gewesen. Denn er nahm es mit der Zeit genau. Er besaß eine Uhr, von der
mein Freund mit Recht sagte, sie wäre ein Chronometer. Es war eine große
goldene Uhr mit Deckel. Das Zifferblatt bestand aus lila Emaille. Die
schwarzen römischen Ziffern hatten goldene Ränder. Ein unscheinbarer, kaum
sichtbarer Haken neben dem Bügel brachte ein Läutewerk in Bewegung. Eine
klare, kleine, silberne Glocke schlug die eben verflossene Stunde und
Viertelstunde. »Diese Uhr«, so sagte Zippers Vater, »kann ein Blinder
ebensogut benützen wie ein Sehender. Die Minuten«, fügte er witzig hinzu,
»muß er sich freilich dazudenken. Diese Uhr ist noch nie beim Uhrmacher
gewesen. Sie geht schon einundvierzig Jahre Tag und Nacht. Ich habe sie
einmal unter ungewöhnlichen Umständen in Monte Carlo erworben.«
Diese »ungewöhnlichen Umstände« gaben dem jungen Zipper und mir
nicht wenig zu denken. Der Vater, mit dem wir bei hellichtem Tage
zusammenkamen, der ein Mensch war wie andere Menschen, mit einem
schwarzen runden Hut und einem Stock mit Elfenbeingriff – der übrigens
auch seine Geschichte hatte –, dieser Vater hatte irgendwann und gerade in
Monte Carlo unter ungewöhnlichen Umständen etwas erlebt. Wir sahen mit
Ehrfurcht, wie der alte Zipper die astronomische Uhr der Sternwarte mit
seiner Uhr verglich, den Stand der Sonne um Mittag kontrollierte, die
elektrischen Zeitmesser in der Stadt. Manchmal, wenn er am Tisch saß und
alle schweigsam aßen, schob er den Riegel an der Uhr, und die Tischgenossen
lauschten verwundert dem rätselhaften Klang.
Zippers Vater liebte Überraschungen. Er gebrauchte sogenannte
Juxgegenstände, falsche Zündholzschachteln, aus denen kleine Mäuschen
sprangen, Zigaretten, die explodierten, und kleine Gummiblasen, die unter
dem dünnen Tischtuch gespensterten. Er kümmerte sich um viele kleine
Dinge, die Erwachsene gewöhnlich verachten. Er hatte aber auch Interesse für
wichtigere Gegenstände, für Geographie, Geschichte, Naturwissenschaften
zum Beispiel. Die alten Sprachen achtete er gering, auf die modernen legte er
das größte Gewicht »Englisch und Französisch«, so sagte er, »muß heutzutage
jeder junge Mann lernen. Hätte ich eine bessere Jugend gehabt, ich wäre
direkt polyglott geworden. Latein lasse ich mir noch gefallen. Eventuell
braucht man’s, wenn man Mediziner oder Pharmazeut wird. Aber Griechisch?
Eine tote Sprache! Homer kann man auch in der Übersetzung lesen. Die
griechischen Philosophen sind längst überholt. Am liebsten hätte ich Arnold
in die Realschule gegeben. Aber die Mutter! Dabei behauptet sie, daß sie
ihren Sohn liebt. Liebt ihn und läßt ihn griechische Grammatik lernen!«
Es gab noch mehr Meinungsverschiedenheiten zwischen dem alten Zipper
und seiner Frau. Sie hatte Respekt vor Lehrern, Priestern, dem Hof und den
Generalen. Er war ein Leugner ewiger Wahrheiten, ein Rebell und ein
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110