Page - 11 - in Zipper und sein Vater
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alte Zipper jemals ihre Mehlspeise zu Ende gegessen hätten. Immer blieben
einige häßliche Reste in ihren Tellern. Trümmer, die ein Unwetter zurückläßt.
Aber wie der Sonnenschein dem Sturm folgt, so begann der alte Zipper
sofort zu scherzen, nachdem sein mißratener Sohn verschwunden war. Noch
standen die Reste der unterbrochenen Mahlzeit vor ihm. Er schien sie nicht zu
sehen. Schon sprach er vom Nachmittag und was wir eigentlich heute zu
machen gedächten. Ob wir schon mit unsern Arbeiten fertig wären. Ob wir
schon das neue Karussell gesehen hätten, das ein Italiener in der letzten
Woche errichtet habe, neben den vielen, die es schon gebe. Ob wir schon
wüßten, daß Andreas’ Puppentheater heute ein neues Programm habe. Ob wir
schon in der Zeitung gelesen hätten, daß die Sommerferien in diesem Jahr
nicht wie gewöhnlich Ende Juni, sondern schon Mitte dieses Monats beginnen
würden.
Denn das waren, wie schon einmal erwähnt, die Sorgen des alten Zipper.
Manchmal ging er zum Kleiderschrank, öffnete ihn langsam wie einen Altar
und entnahm ihm die Geige im schwarzen Geigenkasten, der an einen Sarg
erinnerte. Die Jugend und die Hoffnungen Zippers lagen in ihm begraben,
neben der Geige. Denn der alte Zipper hatte einmal ein Musiker werden
wollen. Er wäre es beinahe geworden. Er besaß, wie er sagte, ein
»unheimliches Gehör«, und ohne Lehrer, ohne Noten, »ohne Anfangsgründe«
hatte er zu spielen angefangen, eines schönen Tages, »von einem Geist
gesegnet«. Er spielte in der folgenden Zeit »alles, was er hörte«. Er spielte
»Menuetts und Walzer«. Er ging zu »allen neuen Operetten«, er spielte am
nächsten Tag ihre Schlager – »nach dem Gehör«. Heute konnte er nur
noch ein Stück spielen, nämlich: »Weißt du, Mutterl« – ein Lied, das den
alten Zipper gar nicht traurig machte und mich zum Weinen rührte. Im
Gegenteil: je verzückter, melancholischer und jenseitiger Zippers Gesicht
wurde, desto lustiger war seine Seele. Er dehnte die Töne ins Unermeßliche,
er zog sie wie Gummi, seine Geige wehklagte, jammerte, heulte, ob es nötig
war oder nicht, und wo es ihm gerade gefiel, schaltete er ein Tremolo ein. Es
wurde mir kalt im Rücken, Zippers Vater aber verriet seine fröhliche Laune
durch die muntere Art, in der er mit dem Fuß den Takt schlug, durch die
zufriedenen Pausen, die er einschaltete, wo sie nicht vorgeschrieben waren,
und in denen er einen selbstgefälligen Blick um sich warf wie ein Künstler,
der irgendein fernes, nur ihm selbst vernehmbares Bravoklatschen hört.
Auf jeden Fall war es die Musik, die der alte Zipper am meisten von allen
Künsten, ja, von allen geistigen Erscheinungen und Formen des Lebens
verehrte. Sie ersetzte ihm den Glauben an Gott, den er leugnete. Sie ersetzte
ihm vielleicht die Liebe, die er nicht genoß, das Glück, das ihn floh. Kein
Wunder, daß er gewünscht hatte, wenigstens aus einem seiner Söhne einen
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110