Page - 38 - in Zipper und sein Vater
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Gabe, zu fühlen, was er nicht sehen konnte. Im übrigen war er verschwiegen,
aber nicht vorsichtig genug, um sich nicht zu verraten. Er war feinfühlig, aber
nicht aufmerksam genug, um niemanden zu verletzen. Mit seinem Vater
verglichen, erschien er nicht merkwürdig, sondern eher gewöhnlich.
Er wohnte, obwohl er wenig Geld hatte, nicht bei seinen Eltern. Er aß nur
bei ihnen. Wovon er das übrige bestritt, wußte ich lange nicht. In einer andern
Zeit hätten ihm seine Fähigkeiten eine Existenz gesichert. In den ersten
Monaten nach dem Krieg aber konnte nur einer jener außergewöhnlichen
Zufälle helfen, die man »Glück« nennt, oder jene außergewöhnliche Kraft, die
ein Genie oder ein Brutaler vor sich her treibt wie einen Tank. Arnold Zipper
war nicht genial und nicht herzlos. Er war im Gegenteil zart, gutherzig,
begabt und schüchtern.
Vom Dezember bis zum März lebte er von dem Handel mit Militärstoffen,
wie ich bald erfuhr. Er vermittelte zwischen Käufern und Verkäufern. Es war
damals Sitte im Land: die »abgerüsteten« Offiziere, die ohne Beruf waren
oder ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten, handelten mit Militärstoffen.
Zipper gehörte nicht zu den Tüchtigen.
Er haßte sein Geschäft. Bevor er in ein Kaffeehaus trat – denn in den
Kaffeehäusern wickelte man die Geschäfte ab –, hatte er hundert Bedenken.
Andere kamen mit der siegreichen Festigkeit eines Commis voyageur von
Beruf, in der Überzeugung, ihr Opfer zu finden, zu überreden und gefügig zu
machen; eine Überzeugung, die Geschäftsreisende ebenso unwiderstehlich
macht wie couragierte Liebhaber und angreifende Generale. Zipper aber war
zaghaft, und er zog infolgedessen das Mißgeschick an, ungefähr wie manche
Menschen Krankheiten anheimfallen, weil sie Ansteckung und
Erkältung fürchten. Zippers Empfindlichkeit verursachte es, daß er den
zufälligen und harmlosen Blick eines Kellners für einen vorwurfsvollen hielt.
Man mußte im Spielsaal des Kaffeehauses stehen, so lange, bis der Käufer
von seiner Kartenpartie aufstand. Wie oft aber kam es vor, daß der Käufer
Zipper schon bei seinem Eintritt bemerkte, ihm durch ein Zeichen zu
verstehen gab, daß er warten möchte, und in der Hitze des Spieles den
Wartenden vergaß oder nur zu vergessen schien! Denn es war auch eine
Methode darin, denjenigen, der das Angebot machte, zu zermürben; zu
erproben, ob er so sehr »im Druck« war, daß er geduldig wartete, oder ob er
so unabhängig war, sofort wegzugehen, wenn der Käufer nicht schnell genug
zugriff. Andere konnten in dem Kaffeehaus, in dem sie ein Geschäft
abschließen wollten, auch Gäste werden – durch die recht einfache Tatsache,
daß sie sich an einen Tisch setzten, von dem aus sie ihr Opfer zu beobachten
vermochten und wo sie einen Kaffee tranken. Allein diese »Spesen« konnte
Zipper nicht aufbringen. Für ihn bestand die Schwierigkeit darin, in ein
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110