Page - 65 - in Zipper und sein Vater
Image of the Page - 65 -
Text of the Page - 65 -
die ein eigenes Gehirn zu haben schien, an das Haar zu führen – eine
Bewegung, die jede Frau schön macht. Denn es ist eine intime Bewegung. Sie
ist wie der Beginn einer Entkleidung.
Ich zweifelte nicht daran, daß Arnold sie liebte. Aber ich zweifelte auch
nicht daran, daß er ihr vollkommen gleichgültig war. Die Vertraulichkeit, mit
der sie ihn behandelte, war um einige Grade wärmer als die, mit der sie die
andern auszeichnete. Von ihm erwartete sie, daß er ihr in den Mantel helfe,
daß er ihr einen Bleistift leihe, daß er ihren Spiegel halte, daß er ihr
Taschentuch aufhebe, daß er sie nach Hause führe. Und niemals sah ich
Arnold glücklicher. Wie gut wußte sie, daß er – wie die meisten Männer –
sich einbildete, die kleinen Dienste, die man von ihm verlangte, kündigten
eine teure Belohnung in der Zukunft an; daß ein schneller Blick, den sie mit
ihm tauschte, auch ein Einverständnis bedeute, obwohl es in Wirklichkeit nur
ein Blick war, der ihn kontrollierte.
Wozu aber bedurfte sie seiner? Er war ein Finanzbeamter und ein Kiebitz,
ohne Geld, ohne Macht und ohne Aussichten. Wenn sie überhaupt einen
Mann brauchte, so durfte es nicht Arnold sein, der sie hemmte. Warum ließ
sie ihn nicht wissen, daß er ihr gleichgültig war? Ich wußte es erst später. Ich
sah, daß sie nicht nur nach Helfern für ihre Karriere suchte, sondern auch
nach Dienern, die sie nicht zu entlohnen brauchte.
Arnold veränderte sich in der nächsten Zeit. Er ahnte noch nicht, was ihm
bevorstand. Vorläufig wurde er selbstbewußt. Er litt nicht mehr an dem
Glauben, daß er überflüssig in der Welt sei. Er mischte sich in das Gespräch
derjenigen, denen er bis jetzt nur mit Achtung zugehört hatte. Er beteiligte
sich sogar am Spiel. Es schien, daß er aufhören wollte, ein Kiebitz zu sein.
Sein Amt gab er auf. Er meldete sich krank und schrieb dann einen Brief an
den Hofrat Kronauer, in dem er mitteilte, daß er auf die Laufbahn eines
Staatsbeamten verzichten müsse. Es war jener Brief, den er vor einigen
Wochen angefangen hatte zu schreiben, als ich ihn im Kaffeehaus traf. Er
suchte jetzt nach einer privaten und, wie er sagte, »provisorischen« Stellung.
Da er keine fand, gab er sein Zimmer auf und zog wieder zu seinen Eltern.
Mit der Festigkeit, die man aufbringen kann, wenn man verliebt ist, erklärte er
seinem Vater, daß er kein Beamter sein wolle.
Dem armen alten Zipper half seine ewige törichte Einbildung, daß alles,
was seinem Sohn Arnold zustoße, von Nutzen sei. Hatte Arnold eingesehen,
daß er nicht im Amt bleiben könne, so war es ein Beweis dafür, daß man dort
nicht weiterkommen konnte. Schien es Arnold an der Zeit, sich zu verlieben,
desto besser. Daß aber Arnold nicht mehr ins Amt ging, eben weil er verliebt
war, wußte der alte Zipper nicht. Seine Einfalt bestand vor allem in seiner
Unfähigkeit, die klarsten Ursachen der Ereignisse zu erkennen. Er glaubte,
65
back to the
book Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110