Page - 80 - in Zipper und sein Vater
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sich verliebten – ohne an die Liebe zu glauben – und sich trennten, ohne an
die Trennung zu glauben. Ach! weshalb waren sie nicht wie ihre Väter
Zigarrenhändler, Börsenmakler, brave Uhrmacher und Bankbeamte? Weshalb
spielten sie so ein lustiges Künstlervölkchen und trieben Opposition gegen
ihre Nachbarn, die Bankdirektoren, die Fabrikanten und die Grundbesitzer?
Waren sie alle zur Schauspielerei gekommen wie Fräulein Erna Wilder?
Einmal in der Woche, nämlich am Sonntagnachmittag, durfte Arnold seine
Frau besuchen. »Den Sonntag kann ich nicht ausstehen!« sagte Erna. »Volk
ist eine ganz gute Sache, aber ein Volk am Sonntag geht mir auf die Nerven!
Es ist doch gut, daß die meisten Menschen arbeiten.« Infolgedessen ging sie
am Sonntag nicht aus. »Zu Hause bin ich nur am Sonntag!« kündigte sie
einigen Leuten an, die sie außerhalb des offiziellen Mittwochs sehen wollten.
Und Arnold ging zu ihr jeden Sonntagnachmittag.
Es war das einzige Mal in der Woche, daß er ein Auto nahm; denn er
brachte seiner Frau Blumen, und er war zu schüchtern, um jemanden sehen zu
lassen, daß er Blumen trage. Er zog einen eleganten Anzug an – er hatte jetzt
einige. Denn in der mondänen Welt, in der er jetzt lebte, mußte man besser
angezogen sein, als man aß. Sogar ein Monokel trug Arnold in der
Westentasche. Legte er es an, so lag es in seinem traurigen Gesicht wie ein
vereister See in einer herbstlichen Landschaft. Aber er mußte es anziehen, bei
Schönheitskonkurrenzen und auch, weil er kurzsichtig war.
Seine Kleider kamen aus einem jener teuren und kleinen Schneiderateliers,
die der großen Welt noch nicht bekannt sind, die noch vor einem Jahr für
Briefträger arbeiteten, plötzlich von einem Schauspieler einen Auftrag
bekamen und nichts mehr zu sorgen hatten. Irgend jemand sagte im
Nachtlokal der Künstler:
»Ich bin dem Tschipek tausend Mark schuldig.«
»Wer ist Tschipek?« fragt ein Neugieriger.
»Sie wissen nicht, wer Tschipek ist?«
Und der andere begann nachzudenken, ob es nicht möglich wäre zu sagen,
man kenne ihn, ehe man laut zugeben mußte, man kenne ihn nicht.
»Tschipek ist der beste Schneider von Europa!« sagte der Schuldner (und
wenn er witzig war, so sagte er: »von Europa und Umgebung!«). Dann rückte
man mit den Stühlen und betrachtete den Anzug.
Es gab da verschiedene verborgene, raffinierte Feinheiten, die nur Kenner
zu schätzen wußten und die man auf den ersten Blick gar nicht eruieren
konnte. So wurde man von den Wissenden ausdrücklich belehrt, daß die
Knopflöcher jungfräulich geschlossen waren, obwohl sie so aussahen, als
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110