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1 Frank Stern · Barbara Eichinger
Steven Bell
aber klar ist, dass Juden wie Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal eine zen-
trale Rolle in dieser Version eines „süddeutschen“, barockkatholischen, aber doch
kosmopolitischen Österreich innehatten.
Auch die „Heimatoperette“ als Genre war von bedeutenden jüdischen Beiträgen
geprägt. Als Beispiel sei Im weißen Rössl von 1930 genannt. Der Komponist Ralph
Benatzky, entgegen der Vermutung vieler – einschließlich der Encyclopedia Judaica –,
war nichtjüdischer Herkunft, aber der Text des Weißen Rössl wurde von Hans Müller
geschrieben, frei nach einem Lustspiel von 1897 von Oscar Blumenthal und Gustav
Kadelburg. Die Liedtexte verfasste Robert Gilbert, der mit Robert Stolz und Bruno
Granichstädten auch zusätzliche musikalische Partien der Operette geliefert hat. Der
Produzent (der auch beim Text geholfen haben soll) war der Impresario Erik Charell,
und Regisseur und Star der Wiener Erstaufführung war Karl Farkas. Außer Robert
Stolz und Benatzky waren alle der oben Genannten jüdischer Herkunft.
Farkas war als jüdischer Komödiant und Kabarettist berühmt. Im weißen Rössl
spielte er die Rolle von Sigi Sulzheimer, lispelnder Sohn eines – nehme ich an – jü-
dischen Berliner Textilfabrikanten. Sigi, obwohl eine komische Gestalt, trägt ent-
scheidend zur Lösung der Handlung bei. Er erfindet „etwas“ in der Textilindustrie,
das die moderne Technik mit den Einsichten der modernen Freud’schen Psycho-
analyse verbindet : ein Brautkleid mit Reißverschluss. Am Wolfgangsee, inmitten
der alpinen österreichischen Heimat, liefert die jüdische Modernität eine innovative
Lösung. Und das Wiener, ja das österreichische Publikum amüsierte sich und ver-
stand diese Kultur, in der so viele Juden tätig waren, als ihre eigene österreichische
Kultur.
Trotzdem haben nicht genügend nichtjüdische Österreicher ihre jüdischen Nach-
barn und Landsmänner („Mitbürger“) als „echte“, „bodenständige“ Österreicher an-
erkannt. Warum das so war, warum die „kompakte Majorität“, wie Freud sie nannte,
österreichische Juden nie ganz als dazugehörend ansah, warum der Antisemitismus in
Österreich so stark blieb, hat vielschichtige Gründe.
Erstens hat die Dynamik der „negativen Integration“ gewirkt, besonders in einem
Staat wie Österreich und einer Stadt wie Wien. Wo Identitäten verschwommen und
fragil waren, konnte man sich gut integrieren – vor allem durch die Identifizierung als
jemand, der nicht dazugehört. Das einfachste Feindbild für diese „Integration durch
Ausschließung“ waren, historisch gesehen, die Juden.
Vgl. Michael P. Steinberg, Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele 1890–1938, Salzburg 2000.
Ralph Benatzky (Text : Hans Müller, mit Robert Gilbert), Im weißen Rössl : Regie- und Soufflierbuch,
Berlin 1931.
Ebd., S. 89.
Lichtfuss, Operette im Ausverkauf, S. 140–147, S. 200–203.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519