Seite - 240 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Karin Stögner
und körperlicher Arbeit, in welcher erstere doch immer das Kommando über zweitere
innehat. Wie eine Art „Schadensausgleich verpönter körperlicher Arbeit wirken denn
auch die Bilder des verfemten „unproduktiven Juden“ oder Intellektuellen . Jeden-
falls erlauben diese Bilder das Abladen von Unlustgefühlen, die der vom System er-
zwungenen Triebverdrängung oder dem Triebaufschub innerhalb der kapitalistischen
Warenwelt geschuldet sind. Von daher stammen auch die Vorstellungen des „gierigen
Juden“ oder des „Verschwenderischen Weibes“ – beide hätten diesen Verzicht nicht
zu leisten. Ganz wesentlich ist hier die erotische und erotisierende Komponente, die
im Warenfetisch sich verdichtet, der selber zum Nährboden der Vorstellungen von
Weiblichkeit und Geschlechtlichkeit wird, wie Benjamin darlegt : „,Geld macht sinn-
lich‘ heißt es und diese Formel gibt selbst nur den gröbsten Umriß eines Tatbestandes,
der weit über die Prostitution hinausreicht. Unter der Herrschaft des Warenfetischs
tingiert sich der sex-appeal der Frau mehr oder minder mit dem Appell der Ware.
Nicht umsonst haben die Beziehungen des Zuhälters zu seiner Frau als einer von ihm
auf dem Markte verkauften ,Sache‘ die sexuelle Phantasie des Bürgertums intensiv
angeregt.“
Die Krise der männlichen Identität und Sexualität im beginnenden zwanzigsten
Jahrhundert ist vielfältig und gesellschaftlichen wie ökonomischen Veränderungen
geschuldet, die schon viel früher einsetzten. In erster Linie zu nennen ist die Schwä-
chung gesellschaftlicher und kultureller Ordnungs- und Verortungssysteme, welche
zunehmend ihre soziale Bindekraft und ihr Identifikationspotenzial einbüßten : im We-
sentlichen die Schwächung der Religion, aber auch das Aufsprengen der geschlechts-
spezifischen Arbeitsteilung durch die Erfordernisse der industriellen Revolution. Die
Entwicklung gipfelte in der nicht nur symbolischen, sondern auch tatsächlichen Ex-
propriation des bürgerlichen Individuums durch den Wandel des Kapitalismus von
seiner liberalistischen zur monopolistischen Phase. Durch die Emanzipationsprozesse
waren zudem gewohnte gesellschaftliche Unterscheidungsmechanismen abhanden
gekommen und mussten neu initiiert und kreiert werden : Der Diskurs um „Rassen“
und „Geschlechter“ war ein Ausdruck davon und ein Mittel zur Refabrizierung der
Der Begriff des Intellektuellen war im Fin de Siècle noch relativ neu. Er entwickelte sich im Zuge
der Proteste gegen den Antisemitismus während des Dreyfus-Prozesses und wurde, noch bevor er als
Selbstbezeichnung diente, als Schimpfwort geprägt. In dieser abwertenden Fassung bedeutete der Be-
griff des Intellektuellen : abstrakt, antinational, zersetzend, dekadent, kantisch, jüdisch – als solcher kam
der Begriff während der Berichterstattung zum Dreyfus-Prozess nach Deutschland (vgl. Astrid Deu-
ber-Mankowski, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie,
vergängliche Erfahrung, Berlin 2000, S. 371). Der Intellektuelle diente fortan als Projektionsschirm für
Antisemitismus, Geistfeindschaft, kunstfeindliche und antiemanzipatorische Haltungen, Antiurbanis-
mus und dergleichen.
Benjamin, Das Passagen-Werk, S. 435 f.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519