Seite - 350 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Elisabeth Brainin · Samy Teicher
legen Freuds Strukturtheorie dar und bilden die Grundlage der Ich-Psychologie, die
erst nach 1945 ihre volle Bedeutung erlangte. Die Ich-Psychologie entsprach Freuds
Wunsch, eine allgemeine Psychologie des menschlichen Seelenlebens, die über die
Pathologie, die Neurosen, hinausging, zu entwerfen. In seiner „Massenpsychologie“
wendet sich Freud außerdem der Sozialpsychologie zu. Dies erscheint auf den ersten
Blick viel spektakulärer, als Freud dies selbst beschreibt. Er meinte ganz lapidar, dass
die Individualpsychologie daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie
sei. Dieser vorausblickende Text Freuds nahm in seiner Analyse die massenpsycho-
logischen Grundlagen der Entwicklung des Faschismus vorweg. Die libidinöse Bin-
dung der Massen an den Führer – sei es ein religiöser, politischer oder militärischer
– und aneinander war der Kitt, der künstliche Massen wie z. B. Militär, Kirche oder
politische Parteien aneinanderband. Feindselige Gefühle in solchen Kollektiven wür-
den verdrängt. Aber die Religion der Liebe, wie Freud in Bezug auf die Kirche sagte,
sei „[…] hart und lieblos gegen diejenigen, die ihr nicht angehören“ .
Das „Ich und das Es“ gehört zu Freuds unentbehrlichsten Texten. Darin werden die
Fundamente der Ich-Psychologie in seine Metapsychologie eingebaut, die Beziehun-
gen zwischen Ich, Es und Über-Ich werden dargelegt, und sie sind die theoretische
Basis für das Denken einiger Analytikergenerationen nach Freud. Darin führt er aus,
dass das Ich eine adaptive Struktur sei, die sich im Kontakt mit der Realität aus dem
Es entwickelt. Diese Struktur des Ich kann ebenso als Ergebnis von Identifizierungen
gesehen werden. Dies formte wiederum die Basis für eine neue Theorierichtung in der
Psychoanalyse, die Theorie der Objektbeziehungen.
Die Erste Republik brachte Freud die Möglichkeit, seine religionskritischen Schrif-
ten ohne Einschränkungen bis 1934, bis zur Errichtung des Ständestaates, zu pub-
lizieren. Sein Werk „Die Zukunft einer Illusion“ , dessen Titel wir leicht verändert
zu unserem machten, brachte ihn nicht nur in Gegensatz zur katholischen Kirche,
sondern zu allen religiösen Institutionen. In diesem Werk führte er aus, dass die
Grundvoraussetzungen der Wissenschaft mit der Religion unvereinbar seien. „[…]
Es gibt keine Instanz über der Vernunft“ , sagt Freud, und „[…] Die Unsittlichkeit
hat zu allen Zeiten an der Religion keine mindere Stütze gefunden, als die Sittlichkeit
[…]“ Pfister 9 meinte dagegen, dass Freud einen Religionsersatz geschaffen habe,
Freud, „Massenpsychologie“, S. 73.
Ebd., S. 107.
Sigmund Freud, „Die Zukunft einer Illusion“ (1927c), in : GW XIV.
Ebd., S. 350.
Ebd., S. 361.
Oskar Pfister war Pfarrer in Zürich. Zwischen 1909 und 1939 korrespondierte er regelmäßig mit Sig-
mund Freud über Theologie und Psychoanalyse. Er war einer der Pioniere der modernen Psychologie
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519