Seite - 390 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Bild der Seite - 390 -
Text der Seite - 390 -
0 Wolfgang Müller-Funk
Reichs zu sein. Im Grunde sieht Roth sich schon seit 1918 als Exilant. In einer Er-
zählung, gewiss nicht seiner besten, aber programmatischsten, lässt er sein Alter Ego,
seine Wunschfigur, einen polyglotten polnischen Grafen, zusammen mit dessen jüdi-
schem Freund in einem galizischen Grenznest die Büste des Kaisers, als Symbol für
das untergegangene Reich, zu Grabe tragen. So wird die spezifisch jüdische Version
der Diaspora, die Gottferne, der Verlust des Tempels und die Idee des guten Herr-
schers miteinander verschränkt und auf eine höchst eigenwillige Weise mit dem habs-
burgischen Mythos verbunden.
Der Autor von Radetzkymarsch wird zum Erfinder des Habsburgischen Mythos in
einer ganz spezifischen, nämlich deutsch-kritischen Version, aus dem Blickwinkel
einer imaginären slawischen und jüdischen peripheren Topografie. Die Habsburger-
monarchie ersteht retrospektiv auf : Roth war sich im entschiedenen Widerspruch zu
allen klassischen Identitätsdiskursen, die auf Authentizität, nationaler Identitätspoli-
tik und essenzialistischen Konstruktionen basieren, des konstruktiven Aspekts jenes
schillernden Phänomens „Identität“ durchaus bewusst, wie das Maskenspiel mit der
Biografie, in der er sich immer wieder neue Herkunftsgeschichten ausdenkt, zeigt. In
diesem Sinn setzt Roth ein narratives Spiel der Identitäten in Gang, das den klassischen
Identitätsdiskurs „außer Kurs“ setzt. In seinem Œuvre wird das jüdische Element nicht
„Verdrängt“, wie Morgenstern suggeriert, wohl aber sichtbar verschoben. In mindestens
zwei bedeutenden literarischen Werken der österreichischen Literatur ist das Ostju-
dentum, Roths „Herkunft“, von zentraler Bedeutung : in der Erzählung Der Leviathan
und im Roman Hiob – in beiden Fällen geht es um den Untergang der ostjüdischen
Welt als Folge einer „sich globalisierenden“ Moderne. Das bei Roth im Unterschied zu
Morgenstern märchenhaft verfremdete Ostjudentum ist nicht Exekutor, sondern viel-
mehr Opfer der modernen kapitalistischen Ökonomie. Diese trägt, etwa in Leviathan,
eine ethnische Charaktermaske in Gestalt des ungarischen Neu-Amerikaners Jenö La-
katos. In beiden literarischen Texten, der Erzählung und dem Roman, geht es um den
Niedergang der ostjüdischen Kultur vor der Shoah, die Roth selbst nicht mehr in all
ihren grässlichen Ausmaßen erlebt, deren Möglichkeit er aber sehr wohl in Erwägung
gezogen hat. Trotz aller Brüche in Joseph Roths persönlichen und politischen Iden-
titätskonstruktionen – Kriegsheimkehrer und linker Intellektueller in der Weimarer
Vgl. Hansotto Ausserhofer, Joseph Roth und das Judentum, Diss. Univ. Bonn 1970 ; Frank Joachim
Eggers, „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn“. Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth und
Franz Werfel, Bern u. a. 1996 ; Eva Raffel, Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph
Roth und Arnold Zweig, Tübingen 2002.
Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, aus dem Italieni-
schen von Madeleine von Pásztory und Renate Lunzer, Wien 2000, S. 303–314.
David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974, München 1981 (= 2. überarb. Aufl.), S. 29–42.
zurück zum
Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519