Seite - 391 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Mit einem ›e‹ 1
Republik, „Ost-Phale“ und österreichischer Legitimist im Exil – gibt es doch erstaun-
liche Kontinuitäten : Zu ihnen gehört auch ein antikapitalistischer und zugleich anti-
modernistischer Antiamerikanismus. Das Leid von Roths Hiob ist nicht zu Ende, als er
in das Gelobte Land Amerika kommt, es steht ihm eigentlich erst bevor : „Amerika hat
uns getötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland.“
Der Niedergang patriarchaler Verhältnisse, ein hohes Maß an Armut und Infra-
struktur sowie der Einbruch der Moderne sind bestimmende Momente in einem
historischen Drama, das die Juden in Osteuropa ereilt. Roths Texte sind melancholi-
sche Dokumente einer zunehmend entzauberten Welt, die freilich – so die Diagnose
– selbst einem bösen Zauber, der Magie des Geldfetischs, anheimfällt. Diese Diagnose
ist, wenn man so will, der „linke Restbestand“ des fantastischen Monarchisten Roth.
In beiden Fällen verlassen die Protagonisten die „alte“ Welt und schiffen sich in die
„neue“ Welt, ins „Neue“ Jerusalem ein.
Ganz anders ist Morgensterns Trilogie mit ihrer Schilderung einer „authentischen“
jüdischen Welt konzipiert, die durchaus wohlhabend ist, trotz aller Krisen und De-
batten keine Weltuntergangsstation, sondern ein zur Zukunft hin offener Ort der De-
batte, verbunden mit den Diskursen über den Zionismus. Soma Morgenstern schreibt
– die Romantrilogie ist da übrigens viel eindeutiger als Morgensterns Position im Er-
innerungsbuch über Roth (das mag auch mit dem zeitlichen Abstand zu tun haben)
– im Schatten Herzls und des Zionismus. Er begreift diesen als die einzige realistische
Option, das Judentum, die Menschen, als auch die geistige, religiöse Substanz, zu
retten. Auch wenn er, wie gesagt, den assimilationistischen Aspekt von Herzls Uto-
pie nicht übersieht, betrachtet sein Protagonist im Roman den Zionismus durchaus
als ein zeitgemäßes Angebot. Morgenstern hat sich letztendlich nicht für Jerusalem,
sondern für New York entschieden : das wirft noch einmal Licht auf die Bruchlinien
moderner jüdischer Identität, die durch zwei Charakteristika geprägt ist : Modernis-
mus und Judenvernichtung in Europa. Wenn ich es – aus einer Außenperspektive
– richtig sehe, dann hat Morgensterns Position eine doppelte Identität – Diaspora
in den usa oder Europa und Loyalität für die religiösen und säkularen Heimkehrer
und Heimkehrerinnen – bis zum heutigen Tag eine erstaunliche Aktualität behalten.
Aus Roths melancholischem Befund hingegen ließe sich – und das war ihm wohl klar
und war Quelle seiner spezifisch jüdischen Melancholie – hingegen keine politisch
tragfähige Position entfalten, wohl aber ein Moment an Reflexion bewahren, das wo-
möglich nicht nur für den innerjüdischen, sondern auch für einen transjüdischen,
„Westlichen“ Diskurs von Bedeutung ist.
Bronsen, Joseph Roth, S. 353.
Roth, Hiob, S. 307 (Kap. XIII).
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519