Seite - 443 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Imago und Vergessen
sentliche Quelle dieser Besonderheit stellt hier Helene Richters schmaler Band Unser
Burgtheater , verfasst im April 1917, dar, in dem trotz des Kriegs, der nicht mehr
aufzuhaltenden Zerstörung des Habsburgerreiches und seiner Gesellschaft das Burg-
theater für eine positive Utopie eines „übernationalen“ Staates steht. Zeichen die-
ses utopischen Entwurfs ist es, dass im Hoftheater verschiedenste gesellschaftliche
Schichten friedlich vereint werden in ihrer Theaterbegeisterung. Die gesellschaftlich
geächteten Schauspieler werden zu „Honoratioren der Stadt und Wien zur Stadt des
Schauspielerkultus“ , bejubelt von Aristokratie, Beamten, Gelehrten, Fiakern und
Marktweibern. Mit der Metapher einer großen Familie beschreibt Richter diese klas-
senüberschreitende Einigkeit. Ästhetische Entsprechung wäre der „Burgtheaterstil“,
der sich – wieder in familiärer Metaphorik beschrieben – „mütterlichseits […] die
frische Theaterlust des Volkes, väterlichseits […] die Kunstliebe des habsburgischen
Hofs“ genommen habe, um seine „eigenartige Doppelstellung als Bildungs- und
Unterhaltungstheater“ zu behaupten.
Allerdings lässt Richter keinen Zweifel, dass die Deutschösterreicher den Ton im
Theater wie in der Monarchie vorgeben : „Der erstarkende österreichische Staatsge-
danke erweiterte naturgemäß auch den Begriff der nationalen und kulturellen Reprä-
sentanz des Burgtheaters, und in der Tat haben in den letzten Tagen unabhängig von-
einander zwei österreichisch fühlende Männer (Richard von Kralik und Stefan Hock)
dem Burgtheater die künftige Aufgabe zugewiesen, seine dramatische Vertretung von
Deutschösterreich auf die der gesamten Monarchie auszudehnen und so den Begriff
der Heimatkunst im modernen Sinn zu erweitern.“
Helene Richters ambivalente Haltung zwischen Tradition und Moderne, Konser-
vativismus und Innovation teilt sie mit vielen österreichischen Intellektuellen. He-
lene Richter ist die erste österreichische Theaterhistorikerin, ein Jahr älter als Arthur
Schnitzler – beide Chronisten eines untergegangenen Wiens. Ihr Vater war wie der
von Schnitzler Arzt, in der Erziehung der Schwestern spielten Werte wie Bildung und
Kultur eine große Rolle ebenso wie Religionen, allerdings war die jüdische ausge-
klammert. Die Schwestern waren konfessionslos, wurden aber religiös erzogen, Elise
Helene Richter, Unser Burgtheater, Zürich, Leipzig, Wien : Amalthea 1918, „Diese Studie wurde in der
ersten Aprilhälfte des laufenden Jahres während des kurzen Zwischenreiches im Burgtheater geschrieben
[…], Wien, Ende April 1917“.
Vgl. Ludwig Eisenbergs Abhandlung über die Geschichte des Berufsstands der Schauspieler in : Ludwig
Eisenberg, Adolf Sonnenthal : Eine Künstlerlaufbahn als Beitrag zur modernen Burgtheater-Geschichte. Mit
einem Vorwort von Ludwig Speidel, Dresden, Leipzig und Wien : G. Piersons’s 1896, S. 1–18.
Helene Richter, Unser Burgtheater, S. 22.
Ebd., S. 8.
Ebd., S. 18.
Ebd., S. 32.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519