Helga Maria Wolf: Verschwundene Bräuche#
Helga Maria Wolf: Verschwundene Bräuche / Das Buch der untergegangenen Rituale, Brandstätter Verlag, 2015, Rezension von Krusche Martin
Der Begriff Heimat feiert in Österreich seit einigen Jahren Feste. Fragen nach unserer Kultur, Geschichte und Identität durchziehen nicht bloß politische Debatten, sondern auch die Flugblätter der Geschäftswelt. Derzeit kann man zum Beispiel T-Shirts kaufen, auf denen groß das steirische Landeswappen prangt und ein Begleittext mitteilt: „Österreicher durch Geburt! Steirer durch die Gnade Gottes!“ Das ist ein wenig gruselig.
Es läßt erahnen, die Unterschiede zwischen Ethnos und Demos sind nicht allgemein geläufig. Eine seriöse Auffassung, was Brauchtum sei, wird man an solchen Stellen kaum finden. Aber das Thema hat Gewicht und findet heute offenkundig mehr Interesse als noch vor zehn Jahren.
Es geht um Fragen nach unserer Kultur, nach unseren Konventionen, Umgangsformen und Ritualen, also nach unseren Bräuchen. Das ist alles nicht nach festgeschriebenen Regelwerken geordnet, sondern wandelt sich im Tun der Menschen. Dabei mag einem in der Orientierung helfen, was ein sehr anregendes Buch von Ethnologin Helga Maria Wolf leistet. Sie geht deskriptiv vor, ordnet die Beiträge alphabetisch, so daß sich „Verschwundene Bräuche“ als Nachschlagwerk eignet. Es kann aber auch wie ein Lesebuch genutzt werden, indem man darin schmökert, nach Laune von Thema zu Thema springt. Meine Ausgabe erschien 2015 im Brandstätter Verlag. Jüngst kam bei Insel eine überarbeitete Version davon als Paperback auf den Markt: „Die schönsten Bräuche, Rituale und Traditionen“.
Wolf stellt im Vorwort des Buches gleich ein paar grundlegende Dinge klar. Etwa: „Bräuche fallen nicht vom Himmel, sie kommen auch nicht aus der ‚Volksseele’. Sie werden erfunden, wenn man sie braucht. Bräuche wandern, entwickeln sich dynamisch weiter, verschwinden, werden revitalisiert. Keiner hat sich von mystischer Vorzeit bis in die Gegenwart erhalten.“
Wer also ein Faible für die Idee von den „ewigen Werten“ hat, sollte sich in einer anderen Disziplin umsehen. Wolfs Arbeit ist eher eine Verbeugung vor der Lebenskraft und dem Einfallsreichtum der Menschen. Was dem entspringt, ändert sich eben mit dem Lauf der Dinge und dem Zustand der Gesellschaft. Mit ihren Worten: „Bräuche werden veränderten Gegebenheiten angepaßt, einzelne Elemente verschwinden, verbinden sich mit anderen, es entsteht etwas Neues, Bräuche sind flexibel und hybrid.“
Das macht auch die Lektüre der einzelnen Beiträge deutlich. So klappern etwa Mühlen heute nicht mehr am rauschenden Bach und was einst über Jahrhunderte Europas Hauptereignis des Maschinenbaus war, von Wasserkraft angetriebene Mühlen und Hämmer, hat inzwischen ganz andere technische Bedingungen. Also liefert das Stichwort im Buch eher eine Rückschau. Wer aber den Maibaum nachschlägt, hat es mit Gegenwärtigem zu tun.
Man muß sicher nicht unbedingt wissen, was Apotropäon ist, aber die Mittel, um Unheil abzuwenden, sind nie aus der Mode gekommen. Sehen Sie sich bloß einmal um, was so an den Innenrückspiegeln von Autos baumelt.
Über den Begriff Arbeitsverbote kann man staunen, denn wer wollte beklagen, daß an bestimmten Tagen das Arbeiten untersagt sei? Wir sprechen inzwischen von Feiertagen, die zur Erholung einst um so wichtiger waren, als die Menschen noch keinen Urlaub kannten.
Kirtag ist heute vielerorts ein Markttag, den die lokale Wirtschaft zum eigenen Vorteil an einem beliebigen Datum festsetzt. Doch eigentlich bezieht sich das Wort auf die Kirchweihe, hat also von Ort zu Ort ein jeweils anderes, konkretes Datum.
Den Gründonnerstag wird man kaum jemandem erklären müssen, der Güldensonntag ist bei uns inzwischen unbekannt. So findet man viele Stichworte, deren erläuternde Texte mal mehr unterhalten, mal mehr informieren, je nach eigenem Standpunkt. Die Sammlung reicht von Advent und Ahnlsonntag bis Zahlenlotto und Zinseier. Ein Sachregister erleichtert das Suchen. Vergnügtes Durchforsten des Buches bietet ein reges Finden.
Dabei wird auf spannende Art deutlich, daß Brauchtum erstens natürlich nicht bloß aus der agrarischen Welt kommt und zweitens nicht nur religiöse Zusammenhänge hat. So erlebt man heute noch auf allen Arten von Märkten sogenannte Kaufrufe. Und was ist das Kerbholz, auf dem jemand Einträge macht? Das Kühtreiben wird man freilich nicht in einer Stadt erleben. Als Buchhandelslehrling wußte ich beizeiten, was Gautschen ist. Wer weiß es noch? In Dörfen kam das sicher nicht vor.
Manchmal überraschen einen Begriffswandel. In meinen Jugendtagen schien klar, was ein Schmachtfetzen ist. Das meinte einen süßlichen Schlager, der sich gewöhnlich um Variationen von Liebesleid drehte und seinerzeit etwa als „Single“ daherkam, als Schallplatte mit 17 Zentimeter Durchmesser. Wolf nennt einen völlig anderen Zusammenhang. Da ist der Schmachtfetzen das Hungertuch, mit dem während der Fastenzeit Altäre und Kruzifixe verdeckt werden.
Kurios auch die Schluckbilder. In meinen Teenagerzeiten waren das bunte Bildchen auf kleinen Stückchen Löschpapier, die mit der Droge LSD getränkt wurden. Wolf beschreibt derlei Eßzettel als Gnadenbildchen oder Heiligenbilder, „die wie Briefmarken auf Bogen von dünnem Papier gedruckt waren“. Man kaufte solche Bögen bei Wallfahrten, ließ sie segnen und schnitt bei Bedarf Bildchen ab, verschluckte sie, um so etwas Segen zu aktivieren. Beides also mit starken emotionalen Effekten.
Liest man über die Walz, die Wanderschaft von Handwerksgesellen, möchte man an versunkenes Brauchtum denken. Aber ich hab erst vor wenigen Jahren einen wandernden Zimmermann, der an seiner Tracht leicht zu erkennen war, im Gastgarten einer Pizzeria zu uns an den Tisch gebeten und zum Essen eingeladen. Daraus ergab sich ein sehr schönes Gespräch, das ausgeblieben wäre, falls mir die Tracht des Burschen nichts bedeutet hätte.
Es ist also allemal überraschend, wo man noch auf Brauchtum stößt, das man vergangen wähnt, aber auch umgekehrt, man staunt gelegentlich, was man selbst an Gewohnheiten hat, die eventuell in altem Brauchtum wurzeln. So kommt etwa das Räuchern im Buch an mehreren Stellen vor. Ich hab es eben erst bei Freunden mitten in Graz erlebt, als der 31. Dezember zu Ende ging.
Im 2014er Jahrbuch „Volkskultur Steiermark“ zitierte Wolf ihren Fachkollegen Utz Jeggler: „Der Brauch bietet Formen und Formeln, um Zugehörigkeit zu dokumentieren und sich ihrer zu vergewissern.“ Sie betont da an anderer Stelle: „Nicht Erstarrtes ist gefragt, sondern sehr persönliche Zeichen…“, die in Gemeinschaft Halt geben sollen.
„Verschwundene Bräuche“ sind also bloß zum Teil verschwunden, untergegangen, etwa dort, wo sie mit aktuellen Lebensbedingungen gar nichts mehr zu tun haben und dadurch gegenstandslos wurden. Andere haben sich abgewandelt, lassen aber ihren Ursprung noch erkennen. Doch wer vom Ursprung nichts weiß, wird derlei Zusammenhänge kaum verstehen.
Weil etliche Bräuche aus heutiger Sicht sehr kurios erscheinen, ist dieses Buch allein schon dadurch ein vergnügliche Lektüre. Manche Passage liefert einem Aha-Momente. Andere Abschnitte bieten Bestätigung für Vermutungen. Etliche Einträge zeigen einem anmutige Bilder von vergangenen Lebens- und Arbeitssituationen.
Deren Schönheit wird einem erst klar, wenn man weiß, wie unendlich mühevoll das Leben für die meisten Menschen einst war. Das kann man heute noch von alten Leuten erfahren, denn eine Existenz im permanenten Mangel war breiten Bevölkerungskreisen bis zum Zweiten Weltkrieg gewohnte Normalität.
Da ist es berührend zu sehen, was den Menschen alles einfiel, um sich für Momente über einen anstrengenden Alltag zu erheben, um Feste zu feiern, oder auch der Arbeit besondere Facetten zu geben, wahlweise die Arbeit zum Beispiel über Rechtsbräuche zu regulieren. Das Brauchtum bot übrigens Möglichkeiten, unabwendbaren Kummer zu mildern, manchen Trost zu geben, wo sonst nichts Tröstliches war. Ist das heute völlig anders? Ich denke nicht.
Die Lektüre dieses Buch macht noch etwas deutlich. Hier geht es um soziokulturelle Phänomene, die (im heutigen Sprachgebrauch) „bottom up“ und nicht „top down“ stattfinden, also von der Basis der Zivilgesellschaft her entstehen und nicht von oben herab verordnet werden können. Brauchtum will also eigentlich nicht professionell organisiert, sondern einfach gelebt werden.
Vermutlich werden wir auch weiterhin miteinander zu verhandeln haben, was hier und dort der Brauch sei und was nicht. Dazu gibt dieses Buch, wie erwähnt, eine vergnüglich lesbare Orientierungshilfe. Eben weil es Bleibendes und Vergängliches erkennbar macht, weil beides, wie man sieht, Bedingung von Brauchtum ist. Das Buch läßt überdies erahnen, wo Wirtschaft oder Politik das Brauchtum zur Manövriermasse eigener Interessen machen, trennen sich Wege.
So gesehen könnte „Verschwundene Bräuche“ als eine Ermutigung verstanden werden, sich seines Lebens und seiner Bedürfnisse bewußt zu bleiben, dabei das Gewicht von Gemeinschaft nicht zu ignorieren, und in solchen Zusammenhängen herauszufinden, was man schätzt und mit anderen teilen möchte.
P.S.: Das Buch ist auch im Austria-Forum zu lesen.