Das Sägen und Feilen#
(Ein stahlhartes Postskriptum)#
Von Martin Krusche#
Der Stahl-Barren, den ich in die Hand bekam, ist wesentlich schwerer als ich erwartet hab. Ich erhielt die Aufgabe, von diesem 30 x 30 Millimeter starken Werkstück mit der Bogensäge ein 30 Millimeter langes Teil herunterzuschneiden. So ging es in die Grundübung dessen, was jeder Lehrling in einschlägigen Berufen - bis hin zum Elektriker - lernen muß. Das Feilen von Hand, um einen hohen Grad an Genauigkeit zu erreichen.
Ich hatte diese kleine Erzählung, die „Werkbank zwo“, davor schon als abgeschlossen betrachtet. Nun kam es doch anders, denn hier führt für mich nun über die Praxis alles tiefer in das Thema, an dem ich noch lange arbeiten werde: „Die Ehre des Handwerks“. Also erhält „Die Schlußszene“ hier ein Postskriptum. Das zentrale Thema dieses Projektabschnittes sind die Klein- und Flurdenkmäler als ein kulturelles Zeichensystem, das in der vorindustriellen Zeit wurzelt. Damit stehen sie historisch gleichermaßen für die agrarische Welt und für das Handwerk.
Mit beiden Themen habe ich mich über viele Jahre gründlich vertraut gemacht. Dazu paßt, daß der Büchsenmacher Franz Lukas, von dem hier zu erzählen ist, aus einer dieser typischen Landwirtschaften herkommt, die durch Aufteilungen in der Erbfolge an wirtschaftlicher Kraft verloren haben. Daher mußten seine Leute einfallsreich vorgehen, damit das Leben gelingt.
Der „Zeit.Raum“#
Wir hatten uns über mein Interesse an am Aspekt der „Ehre des Handwerks“ unterhalten, weil ich das in einem der Fenster im Gleisdorfer „Zeit.Raum“ Episode für Episode aufblättere. Naheliegend, mit Lukas das Gespräch zu suchen, um daraus eine Episode zu entwickeln.Dabei machte er geltend, daß es ein erheblicher kategorialer Unterschied sei, über solche Dinge bloß zu reden oder auch die konkrete physische Anfordernd des Sägens und Feilens zu kennen. Ich hab über die Jahre mit wenigstens drei Generationen von Handwerkern gesprochen, die das alle absolviert haben. Niemand mochte es leiden. Für die Produktion ist es unnötig, denn das leisten schon lange Maschinen, inzwischen EDV-gesteuerter Systeme von unfaßbarer Leistungskraft.
Wenn man die Gründe für die mühsame Handarbeit zusammenfaßt, mündet das in Genauigkeit und Respekt vor dem Material. Scharfe Kanten, glatte Flächen, rechte Winkel, die genau 90 Grad haben. Schöne Sätze, wenn sie so hingeschrieben stehen. Inzwischen weiß ich allerdings, daß ich sowas vorerst für aussichtslos halte. Umso mehr, als mit Lukas einen alten Würfel vorlegte, den er als junger Mann gefeilt und durchbohrt hat. Ohne Maschine, wohlgemerkt.
Es ist eine sehr beunruhigende Vorstellung, schaffen zu müssen, was er schon vor Jahrzehnten zu Grundlage seines Berufs gemacht hat. Nun fand ich heraus, das Heruntersägen des groben Stahlwürfels vom Barren war dazu erst ein Spaziergang, der mir zwar den Schweiß auf die Stirn trieb, aber nur mäßige Genauigkeit forderte. Ich hatte den Rat beachtet, außerhalb der Markierung zu sägen, ohne noch zu wissen, weshalb das nützlich ist.
Vom Schaukeln#
Die Säge greift beim Schub. Wenn man sie zurückzieht, ist das bloß nötig, um wieder anschieben zu können. Die ungeübte Hand verursacht durch ein Schaukeln der Säge kleine Vertiefungen auf einer Fläche, die vollkommen plan und glatt werden soll. (Alles Walzer!) Für jede kleine Delle oder Scharte, die sich schon aus einem einzelnen Schub der Säge ergeben kann, muß ich die restliche Fläche absenken = wegfeilen.Anders geht es nicht. Wenn dafür zu wenig Reserve ist (drum hab ich außerhalb der Markierung geschnitten), verkürzen sich dabei sofort vier der Kanten, ich muß also auch alle restlichen Kanten auf die gleiche Länge runterfeilen. Das klingt nett, stellt einem aber die Nackenhaare auf.
Es erhöht nicht bloß, sondern potenziert die Chance auf Fehlgriffe, auf neue Dellen und Scharten. Sie ahnen schon, das schmeckt nach „Ende nie“. Etwas gröbere Buckel oder Schräglagen sind ja mit freien Augen gut sichtbar, selbst mit meinen, und lösen sich unter der Feile auf. Um das eigene Elend dann zu überprüfen, läßt sich eine kleine Winkellehre anlegen, deren Schenkel in exakt 90 Grad zueinander stehen.
Hält man diese Lehre auf dem Würfel gegen das Licht, sieht man beunruhigend genau, wo auf der Fläche noch eine Unebenheit einen feinen Spalt offenstehen läßt, durch den das Licht dringt. Macht man das reihum von den vier Seiten der Würfelfläche aus, entstehen ganz unterschiedliche Eindrücke, wo nun eine kleine Passage weggefeilt werden muß. (Das im Kopf zu behalten, überfordert mich derzeit noch.)
Ich bin im Augenblick völlig ratlos, wie man räumlich zusammendenkt, was man von vier Blickwinkeln aus gesehen hat, um dann das Werkzeug punktgenau auf- und einzusetzen. Immerhin beginne ich, nun lesen zu können, was mir verschiedene Farbstufen der Würfeloberfläche über das Ausmaß der Unebenheit zuflüstern; allerdings noch weit davon entfernt, das hinreichend genau auf die Handhabung der Feile umlegen zu können.
Die Hand muß lernen#
Was heißt Feile? Feilen! Plural. Am schönsten fand ich eine ganz alte, mit einem frischen Holzgriff versehen, viel zu groß für mich und nicht handhabbar. Es ist irritierend, wie viel verschiedene Feilen Meister Lukas vorrätig hat. Also: aus jedem Blickwinkel eine andere Art der Unebenheit, die geglättet werden soll. Man mag sich nicht vorstellen, wie sich das in einer Mischung aus Grübelei und etwas lächerlichen Feilenbewegungen ausdrückt. Für Säge und Feile gilt ja, daß sie gleich halb so klang sein könnten, wenn man sie nicht über die ganze Länge durchzieht. Das wiederum macht die Bewegung unsicher, aber das kurze Herumfieseln ist für nix.Ich dachte an ein paar Jahre Geigenunterricht, die ich als Kind absolviert habe. Üben, bis man den Bogen richtig hält, so daß man nicht mehr dran denken muß, um zu üben, wie man ihn richtig führt, aber hier kommt ja auch noch Kraft ins Spiel, die nötig ist, um etwas zu bewirken.
Diese ganze Länge der Feile erhöht beim Neuling im Durchziehen eine Neigung zum Schaukeln des Werkzeugs und das löst unvermeidlich Kummer aus. Es gilt ja nicht bloß, eine einzelne Fläche zu bewältigen. Der Würfel hat sechs davon. Die Anzahl möglicher falscher Bewegungen ist daher mit einer Exponenzialkurve darstellbar, weil sich – wie schon angedeutet – die Fehler bei einer einzelne Ebene auf jeweils vier Kanten auswirken, die ihrerseits zu Flächen gehören, an denen dann allenfalls nachgebessert werden muß.
Wie mein Sohn Gabriel, ein gelernter Betriebselektriker, zu meinen ersten Schritten im Stahl-Metier meine: „Ach ja, das weckt Erinnerungen. Passt eine Seite endlich, ist die andere plötzlich am Arsch.“ Dabei hatte es so einfach geklungen. Franz Lukas nahm anfangs den Rohling, den ich vom Barren abgeschnitten hatte, drehte ihn und sagte: „Der Würfel, den wir brauchen, ist da drinnen. Du mußt ihn nur herausholen.“
Komplexität bewältigen#
Ich bin mir noch nicht recht im Klaren darüber, welches Ausmaß die Bedeutung hat, etwas zu erlernen, das für die Produktion von Werkstücken nimmer gebraucht wird, weil das heute Maschinen machen. Sie machen es eigenständig wie nie zuvor. Wir sind mitten in der Vierten Industriellen Revolution. Das ist unter anderem eine Automatisierungswelle, in der Maschinenintelligenz den Menschen allerhand Arbeiten abnimmt, die bisher unserer Spezies vorbehalten waren.Ich schreibe bewußt Maschinenintelligenz, weil der populäre Begriff „Künstliche Intelligenz“ unterstellt, diese Maschinenintelligenz sei der menschlichen ähnlich, aber eben von Menschen gemacht. Das ist sie nicht. Sie ist von völlig anderer Art. Gut, seit Prometheus und Hephaistos handelt Europas Mythologie davon, daß Menschen sich Apparate ausdenken. Was maschinisierbar ist, übergeben wir den Maschinen und können im besten Fall unsere Potentiale anderen Aufgaben widmen.
Aber dieses Schulen der Hände und die Denkprozesse, um komplexe Zusammenhänge zu erfassen… Ich war überrascht, wie knifflig es ist, sich vorzustellen, was man mit einzelnen Handgriffen an einem sechsseitigen Würfel bewirkt, wenn am Ende alle Kanten gleich lang und alle Flächen völlig eben sein sollen.
Dabei ist so ein Würfel ja noch eine recht simple Anordnung gegenüber Apparaten oder ganzen Anlagen, die überdies von Steuerelementen in ihren Abläufen geregelt werden. Ich sehe eine meiner Lieblingsannahmen nun durch Praxisschritte bestätigt. Auch wenn wir Maschinen haben und diese grundlegenden Fertigkeiten zur Herstellung oder Wartung von Gütern nicht mehr nötig sind, liegt darin eine Erfahrungsmöglichkeit von kulturellem Wert. Es macht mit mir etwas. Nicht nur körperlich, auch kognitiv und in der Folge emotional.
Ich stehe heute nicht unter der Anforderung, einen Stahlwürfel feilen zu müssen, der den Ansprüchen eines Meisters an seine Lehrlinge genügen muß. Ich darf es unter der Anleitung eines erfahrenen Handwerkers versuchen, um eine Wahrnehmungserfahrung zu machen. Eine ästhetische Erfahrung. Denn das bedeutet der Begriff ursprünglich. Aisthesis ist das altgriechische Wort für Wahrnehmung.
Übrigens waren in der Antike Kunst und Handwerk keine getrennten Kategorien und beide mit dem Wort „techne“ gemeint. Das hat sich in den Jahrtausenden gründlich ausdifferenziert. Einen Stahlwürfel zu feilen rührt eigentümlich an diesen Ursprüngen.
Das heißt, Franz Lukas öffnet mir einen Weg, über Handlungen kurz etwas auszuloten, was von den Wurzeln auch der Kunst handelt. Wir wissen seit dem Fund und dem späteren Entschlüsseln des Mechanismus von Antikythera, daß die Feinmechanik schon in der Antike bekannt war und taugliche Apparate ermöglicht hat. Zum Hintergrund dieser Session siehe: “Wohin es führt“ (Ein Moment mit Johann Grimm)!
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