Bräuche, neue#
Neue Bräuche, oft mit Eventcharakter, unterscheiden sich grundsätzlich von alten durch: professionelle Planung und Durchführung, breites Programm, Marketing, Medienpräsenz, Prominenz und Sponsoren. Die früher unumgänglichen Aspekte Tradition, Gemeinschaft und Religion spielen keine Rolle. Wer will, gehört dazu, doch niemand ist verpflichtet, daran teilzunehmen. Das alte Gesetz des "schon immer so" löst sich in Einzelmotive auf, die Bräuche zwar instabil machen, dem Einzelnen aber Wählbarkeit, Ablehnungsmöglichkeit und die Chance zum Erfinden von immer Neuem geben.
Zeichnete bei alten Bräuchen eine Gruppe (Burschen, Feuerwehr ... ) für die Ausrichtung verantwortlich, so sind es bei neuen meist Organisationen (politische Parteien, Kaufleute einer Einkaufsstraße ...), die sich professioneller Hilfe (Eventagenturen, Beschallungsspezialisten) bedienen. Bei alten Bräuchen kam dem Publikum bei der Vorbereitung und Durchführung eine bestimmte Rolle zu. Die engere oder weitere Bindung zum Brauchgeschehen war durch eine festgelegte Rollenverteilung bestimmt. Bei den neuen Festen der Erlebnisgesellschaft ist das Publikum an der Vorbereitung nicht beteiligt, kann / soll aber bei der Veranstaltung selbst aktiv werden. Viele Events leben geradezu von der Aktivierung der Teilnehmer (Marathon, Tanz, Speaker's Corner, Karaoke, Kinderprogramme ...) Prominente Personen / Politiker sind sowohl Publikum als Akteure. Die Zahl der Zuschauer steigert sich um ein Vielfaches, wenn das Ereignis entsprechendes Medienecho findet. In Wien entwickelte sich besonders der Rathausplatz zu einem beliebten Veranstaltungsort.
Das Programm der neuen Bräuche ist breit gefächert - von jeder Art Kultur über Sport, Kinderprogramme, folkloristische Elemente, Animationsangebote ... Im Mix liegt der Erfolg. Essen und Trinken (am besten gratis) steigern das Vergnügen. Während alte Bräuche meist an Kalendertermine gebunden sind, entstehen neue nach Anlässen.
Wenn sich keine passenden Bräuche zum Revitalisieren finden, schafft man sich neue. Sie finden sich in Familien, Gruppen und Gemeinden. Wie alte Bräuche entstehen auch sie aus verschiedensten Motiven, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen, wie das Beispiel des Schokoladenfestes Halloween (Foto Wien 2007] zeigt.
Für öffentliche Events bieten sich öffentliche Areale an. Das Publikum soll sich unterhalten, aber auch kaufen, wählen, konsumieren. In Niederösterreich haben neue Bräuche oft mit regionalen Lebensmittel-Spezialitäten zu tun. Beispiele: Mostkost in Haag, Bierkirtag in Weitra, Kürbisfest im Retzer Land, Erdäpfelfest in Geras, Zwiebelfest in Laa an der Thaya, Abfischfest im Waldviertel. Für neue Bräuche gilt, was der Trendforscher Matthias Horx "das große Lebensstil-Experiment" nennt: Der Einzelne entscheidet, was er tun will oder nicht tut. Er hat die Integrationsleistungen selbst zu vollbringen, die früher von äußeren Normen und Regeln garantiert waren. Bindungen müssen erarbeitet, geformt, gepflegt werden. Eine Kultur des Wählens ist gefragt. Ein Teil der alten Rituale zerbricht mit der neuen Freiheit.
Neu sind auch Bräuche im öffentlichen Raum, wie Urban Knitting, Liebesschlösser (Foto: Murbrücke, Graz, 2012) oder das Aufhängen von Transparenten oder Schuhen. Als Zeichen des Protestes ist (neben Demonstrationen) neuerdings ein "Lichtermeer" aus Kerzen häufig zu beobachten. Eine spezielle Ausdrucksform der virtuellen Gesellschaft ist der Flashmob (Flash - Blitz, mob - reizbare Volksmenge), ein kurzer, scheinbar spontaner Menschenauflauf, bei denen sich die Teilnehmer persönlich nicht kennen und ungewöhnliche Dinge tun.
Fotos: Alfred Wolf, Doris Wolf
Quellen:
Matthias Horx: Megatrends für die späten neunziger Jahre. München - Düsseldorf 1998. S. 56-81
Helga Maria Wolf: Das neue BrauchBuch. Wien 2000. S. 19
Jahrein, jahraus, landauf, landab. St. Pölten 2006
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