Symbolisches Denken#
(Tesserakt, Dorf 4.0 und die Kunst)#
von Martin KruscheEntsprechend der Ideengeschichte Europas, gestützt auf Überlegungen von Aristoteles, gilt der Mensch als politisches Tierchen. Das ist recht salopp formuliert. Zoon politikon meint ein Wesen, das dazu neigt, in Gemeinschaft zu leben. Was uns als Menschen ausmacht, wird laufend neu verhandelt. Was uns von anderen Arten der Lebewesen am deutlichsten unterscheidet, ist die Fähigkeit zum symbolischen Denken. Das heißt ganz praktisch: wir können Dinge denken, die es nicht gibt.
Möchte man das etwas freundlicher ausdrücken, könnte es so lauten: wir erdenken die Welt, weitgehend unabhängig davon, wie sie für sich tatsächlich ist. Weshalb? Weil wir, bedingt durch unsere kognitive Ausstattung, gar keine Möglichkeit haben, die Welt sinnlich direkt zu erfahren.
Das mag Ihnen vielleicht auf Anhieb irritierend vorkommen. Aber der Stand wissenschaftlicher Diskurse läßt annehmen, daß unser Gehirn eine kognitiv geschlossene Instanz ist, die bloß individuell deutet, was die Sinnesorgane an Impulsen nach innen liefern. So die Ansicht der Radikalen Konstruktivisten.
Karl Popper und John C. Eccles haben in ihrer gemeinsamen Arbeit „Das Ich und sein Gehirn“ eine Vorstellung entwickelt und dargelegt, daß unser Ich sich ein Gehirn gönnt, das zu bestimmten Leistungen befähigt ist. Haben wir hier eine Henne-Ei-Frage? Daniel Dennett scheint es genau umgekehrt zu sehen. Er meint, die über 80 Milliarden Neuronen, aus denen unser Gehirn besteht, würden uns das Ich als eine Art Benutzer-Simulation anbieten, weil das am ehesten geeignet sei, als Lebewesen die rasenden Daueraktivitäten unserer Neuronenensembles zu nutzen.
Weshalb sollten wir uns mit solchen Fragen befassen? Was nützt uns das im Alltag und in der Gemeinschaft? Falls solche Erkenntnisse uns zu verstehen helfen, welche Art von Wesen wir sind und was uns bewegt, dann nützt das natürlich ganz erheblich in der Gemeinschaftsorganisation und in der Alltagsbewältigung. Sie ahnen gewiß, ich würde das hier nicht erzählen, ohne Ansichten wie denen der Konstruktivisten oder Dennetts zuzustimmen.
Das alles bedeutet ja, es besteht eine vitale Hierarchie der Ereignisse, die unsere Lebendigkeit ausmacht. Ab dem unfaßbaren Geschehen im Verband der erwähnten rund 80 Milliarden Neuronen entfaltet und gestaltet sich quasi schichtweise ein konkretes Menschsein von Individuen, das sich darüber hinaus in Gemeinschaften zeigt. Das Zoon politikon und seine Formationen. Sinnhungrige und deutungsbesessene Wesen.
Manchen Menschen ist das wenig geheuer, weshalb sie lieber ein „höheres Wesen“ annehmen, das uns derlei grundlegende Zusammenhänge regelt. Wer sich aber nicht auf die Idee einer lenkenden Instanz im Außen angewiesen fühlt, wer in diesen phantastischen Kräftespielen des Leibes und des Ich ausreichende Gründe und Inhalte einer Existenz findet, mag eine Auffassung von Kunst gewinnen, die ihr vor allem einmal völlige Autonomie zubilligt. Kunst dient nur ihren eigenen Regeln und keinen anderen.
Was wir von der Kunst beziehen, ist nicht das Schöpfen aus einer geheimnisvollen Quelle, sondern die Erfahrung aus eigenem Tun. Sei es Kunstpraxis oder Kunstrezeption, es ist auf jeden Fall die Befassung mit Kunstwerken, egal ob Artefakte, Ideen oder Prozesse.
Daraus ließe sich ableiten: die Befassung mit Kunst ist Selbsterkundung. Sie ereignet sich über ästhetische Erfahrungen und Reflexion. Aisthesis ist die Wahrnehmung. Es geht also primär um Wahrnehmungserfahrungen.
Solche grundlegenden Überlegungen im Rahmen des Teilprojekts „Tesserakt“, das im 16. Jahre meines Langzeitprojektes „The Long Distance Howl“ umgesetzt wird, sind mir wichtig geworden, weil sich das regionale Kulturgeschehen in den letzten Jahren gravierend gewandelt hat.
Genau genommen ist ab 2008/2009 viel in Bewegung gekommen, ist seit 2014/2015 eine deutliche Umbruchsituation festzustellen. Inzwischen bin ich geneigt, diese Entwicklung in Zusammenhängen mit dem massiven Rechtsruck europäischer Gesellschaften zu sehen.
Das Raffinierte, das Subtile, hat rasant an Boden verloren. In meiner Umgebung boomen derzeit eher simple Angebote, launige Sprücheklopfereien und vielfach handwerklich völlig unbedarfte Arbeiten von entsprechenden inhaltlichen Schwächen, mit denen der Begriff Kunst derzeit okkupiert wird. Sichtbarkeit geht vor Authentizität. Nuancen erscheinen verzichtbar. Ich sehe immer mehr Arbeiten, wo jemand eine handliche Pointe rauszuhauen versucht, anstatt sich einen Inhalt zu erarbeiten.
Das ist kein Grund zur Klage. Hier wird heute mit Kitsch und Dekorationsgegenständen ein deutliche Kontrast produziert, in dem die Debatte über Kunst mittelfristig gewinnen könnte. Der Unterschied macht den Unterschied! Ich denke tatsächlich, die Kunst gewinnt an Möglichkeiten, wenn sie stellenweise demonstrativ ausgeschlagen wird, wie das auch einige historische Antikunst-Konzepte bewirkt haben.
Mein Teilprojekt „Tesserakt“ trägt den Untertitel „Auf der Suche nach Transparenz“. Das ist, wie eben angedeutet, auch eine Suche nach Kontrasten. Die entstehen unter anderem durch Nuancen. Das bedingt eine verfeinerte Wahrnehmung. Die ist wiederum nicht zu gewinnen, wenn man Komplexitätsreduktion zu seinem Lebensprinzip erklärt.
Freilich muß einem das freistehen. Die Komplexität zu meiden und simple Muster zu bevorzugen. Ich messe in all dem der Poiesis eine besondere Rolle bei, also dem Erschaffen; und zwar hier nicht im Sinn des Machens (Homo faber), sondern eher im Sinn der Poesie, also eines Schöpferischen, das keinem praktischen Zweck unterworfen ist.
In genau diesen Zusammenhängen behaupte ich: Kunstpraxis ist eine primäre Praxis des Menschseins. Hier geht es um kein Dekorationsgeschäft, keine Bildungseinrichtung, keine Erziehungsanstalt. Noch bevor wir uns den praktischen Fragen des Lebens und der Menschengemeinschaft widmen können, muß sich die Conditio humana einlösen. Kunstpraxis ist ein bedeutender Teil dieses Einlösens.
Damit ist auch ein kulturpolitscher Anspruch deponiert, der nicht den Basteleien, dem kreativen Gestalten und ähnlichen Arten sozialer Praxis gewidmet wird. Die sind Betätigungsfelder zur individuellen Erbauung und haben wohl auch gemeinschaftsfördernde Qualitäten. Was ich hier geltend mache, geht wesentlich tiefer. Das ist einer der Angelpunkte meines auf 20 Jahre Laufzeit angelegten Projektes „The Long Distance Howl“.
Die Verzahnung dieses Vorhabens mit der regionalen Kooperation „Dorf 4.0“ verankert derlei Schritte mit einem konkreten und überschaubaren Lebensraum. Das aktuelle Teilprojekt beinhaltet unter anderem wieder eine Diskursleiste und eine Lyrik-Serie: