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"Wir verdienen ein besseres Leben" #

Die Autorin Lejla Kalamujić über die Zerstörung von Sarajevo, die Ukraine und Wien als Hauptstadt des Balkans.#


Von der Wiener Zeitung (2. April 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Stephan Wabl


'Ich habe nie das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, wenn ich in Wien oder Graz bin' - und auf der Mariahilfer Straße hört Lejla Kalamujić die Sprache ihrer Heimat.ž
"Ich habe nie das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, wenn ich in Wien oder Graz bin" - und auf der Mariahilfer Straße hört Lejla Kalamujić die Sprache ihrer Heimat.
Foto: © Ema Bednarž

"Wiener Zeitung": Sie waren zwölf Jahre alt, als der Krieg in Bosnien und die Belagerung Sarajevos begann. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie 30 Jahre später die Bilder aus der Ukraine sehen?

Lejla Kalamujić: Ich bin traurig darüber, wie sehr sich die Geschichten der Menschen in der Ukraine und meine eigenen Erfahrungen gleichen. Auch wir hätten nie gedacht, dass es Krieg in unserem Land geben wird. Als dieser über uns hereinbrach, waren wir überzeugt, dass er nicht lange dauern wird. Als Sarajevo im April 1992 angegriffen wurde, haben wir uns in einem Schutzkeller in Sicherheit gebracht. Mein Cousin ist zu uns gestoßen und meinte, er habe gehört, dass die Belagerung in fünf Tagen vorbei sei. Aus fünf Tagen wurden allerdings 1.425 Tage und über 10.000 Tote. Als ich kurze Zeit später aus Sarajevo geflüchtet bin, habe ich nur wenige Dinge mitgenommen. Ich habe geglaubt, ich werde bald zurückkommen. Zurückgekehrt bin ich zwei Jahre später. Viele sind gar nicht mehr wiedergekommen und in den Ländern ihrer Flucht geblieben.

Wenige Jahre zuvor, 1984, war Sarajevo Austragungsort der Olympischen Winterspiele und die Stadt war einen Winter lang das Zentrum der Welt.

Daran sieht man, wie schnell sich alles ändern kann. Im Krieg haben die serbischen Einheiten sogar die olympische Bobbahn in den Hügeln um Sarajevo benützt, um von dort aus die Stadt zu beschießen. Die Winterspiele waren ein großes Fest - und wir sehr stolz darauf. Zu Kriegsbeginn waren wir der Meinung, dass die Welt, die kurz zuvor noch Gast in unserem Land war, uns helfen wird. Leider wurden wir enttäuscht. Weder die EU noch die USA sind uns zu Hilfe gekommen. Dieses Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, sitzt tief und ist bis heute nicht verschwunden. Ich hoffe, dass die Menschen in der Ukraine dieses Gefühl nicht auch noch mit uns teilen müssen.

Milorad Dodik, der Serbenführer der Republika Srpska - einer der zwei Entitäten Bosnien-Herzegowinas -, forciert immer wieder die Abspaltung des serbisch dominierten Landesteils. Wladimir Putin unterstützt ihn dabei. Haben Sie Angst vor einem neuen Krieg?

Angst nicht, aber ich mache mir Sorgen. Diese nationalistische Rhetorik kennen wir seit 30 Jahren. Sie wird immer dann hervorgeholt, wenn die Politiker unseres Landes von anderen Themen ablenken wollen. Die Menschen in Bosnien sind sehr müde und haben die Hoffnung aufgegeben, dass es besser werden könnte. Wir haben dieses Kapitel der Gewalt nie geschlossen, der Krieg ist immer noch ein Teil von uns. Und wenn es irgendwo auf der Welt einen neuen Konflikt gibt, werden wir an das erinnert, was wir selbst in den 1990ern erlebt haben. Diese Stimmung macht mir zu schaffen und ich bin mir nicht sicher, ob unsere eigene Situation im Schatten des Ukraine-Krieges nicht doch eskaliert. Im Alltag versuchen wir das zu verdrängen und schauen einfach, dass wir über die Runden kommen.

Viele junge Menschen haben Bosnien in den letzten Jahren verlassen. Sie sind geblieben. Warum?

Weil ich als Schriftstellerin in meiner Muttersprache arbeiten möchte. Ich habe das Privileg, durch Stipendien und Lesungen relativ oft reisen zu können. Aber auch viele meiner Freunde und Freundinnen sind mittlerweile ausgewandert. Sie sind nach Österreich, Deutschland oder noch weiter weggezogen. Würde ich Bosnien verlassen, müsste ich neben dem Schreiben andere Jobs machen, um genug Geld zu verdienen. Darunter würde meine Arbeit als Autorin massiv leiden. Mein Leben und meine Geschichten spielen sich aber hier ab. Ich schließe allerdings nicht aus, dass auch ich das Land einmal verlassen werde.

"Wir haben hier diesen Witz, dass Bosnien in dem Moment der EU beitreten wird, wenn sie sich auflöst." - © Ema Bednarž

"Wir haben hier diesen Witz, dass Bosnien in dem Moment der EU beitreten wird, wenn sie sich auflöst." - © Ema Bednarž

"Wir wollen sie drinnen haben. Sie sind einer von uns." Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, hat das über die Ukraine kurz nach Beginn des Krieges gesagt. Bosnien-Herzegowina wartet seit Jahren auf EU-Beitrittsgespräche. Sind Sie von Europa enttäuscht?

Wir haben hier diesen Witz, dass Bosnien in dem Moment der EU beitreten wird, wenn sie sich auflöst. Wenn sich die Menschen im Supermarkt über einen EU-Beitritt unterhalten, winkt jeder ab. Der Glaube ist einfach nicht mehr vorhanden, falsche Versprechungen schaden zudem mehr, als sie nützen. Die Menschen hier haben mittlerweile das Gefühl, dass sie sich auf niemanden verlassen können. Diese Resignation haben wir aus dem Krieg mitgenommen. Europa ist aber mehr als die Europäische Union - und die EU sollte Länder wie Bosnien oder die Ukraine nicht nur dann ernst nehmen, wenn es ein Problem gibt. Dieser Zugang sagt viel über das Selbstverständnis der Europäischen Union aus.

Sarajevo galt in den 1980er Jahren als das kulturelle Zentrum des Balkans. Wie ist es für Sie, 30 Jahre nach Kriegsbeginn durch die Stadt zu spazieren?

Damals war eine außergewöhnliche Zeit. Weder die religiöse Einstellung noch der ethnische Hintergrund spielten eine große Rolle. Meine Mutter, um die sich mein Buch "Nennt mich Esteban" dreht, ist 1982 gestorben. Sie ist am Friedhof Bare in Sarajevo begraben, einem der größten Friedhöfe Europas. Dort liegen muslimische, orthodoxe, katholische und jüdische Gräber eng beieinander, aber auch das Grab meiner Mutter - einer Atheistin. Das spiegelt die Atmosphäre dieser Jahre gut wider. Während des Kriegs und unmittelbar danach wurden viele neue Gräber und Friedhöfe geschaffen. Sie prägen das Bild der heutigen Stadt. Aber Sarajevo ist immer noch eine offene Stadt. Wir machen Lesungen, gehen auf Konzerte und besuchen Ausstellungen. Aber Kunst und Kultur haben kaum Unterstützung von der öffentlichen Hand und die Menschen brauchen das Geld, um ihre existenziellen Grundbedürfnisse zu decken.

Welchen Ausweg sehen Sie?

Die Menschen müssen sich bewusst machen, dass sie bessere Politiker und vor allem ein besseres Leben verdient haben. 30 Jahre nach Kriegsbeginn schaut die Lage zwar nicht gut aus, aber wir dürfen nicht aufgeben, ein menschenwürdiges Leben einzufordern. - © eta Verlag © eta Verlag

Sie sind das Kind eines bosniakischen Vaters und einer serbischen Mutter. Welche Bedeutung hat das heute für Sie?

Mischehen waren früher gang und gäbe, für mich hat das keine besondere Bedeutung. Dieser Umstand hat eher noch mehr dazu beigetragen, zu verstehen, wie sinnlos diese ethnischen Zuschreibungen sind. Bosnien-Herzegowina besteht heute offiziell aus drei Ethnien: Bosniaken, Serben und Kroaten. Ich zähle mich aber zu keiner dieser drei Kategorien. Im dreiköpfigen Staatspräsidium sind allerdings nur Vertreter erlaubt, die sich zu einer der drei Ethnien zugehörig erklären. Das ist einer der Gründe, warum wir nicht weiterkommen.

Sie gelten nicht nur als bedeutende Vertreterin der jungen bosnischen Literatur, sondern auch als wichtige Stimme der LGBTQI-Community in Bosnien. Hat sich in diesem Bereich etwas verbessert?

Bosnien war das letzte Land Ex-Jugoslawiens, das eine Pride Parade veranstaltet hat. Diese fand im Frühling 2019 zum ersten Mal in Sarajevo statt und war ein großer Erfolg - auch wenn der Polizeischutz massiv war. Wir haben mit ein paar hundert Teilnehmern und Teilnehmerinnen gerechnet, gekommen sind 3.000 Menschen. Alle haben sich umarmt - egal, ob man sich kannte oder nicht. Die letzten beiden Jahre sind die Menschen aufgrund der Corona-Einschränkungen im Autokorso mit Plakaten durch die Stadt gefahren. Es gibt zudem das "Sarajevo Open Centre", das sich für die Gleichstellung von LGBTQI-Paaren und Verbesserungen in den Bereichen Justiz und Polizei einsetzt. Es tut sich also was. Für mich ist es allerdings leichter, über diese Themen zu sprechen und als lesbische Frau zu leben, als für ein junges Mädchen in einer bosnischen Kleinstadt oder am Land.

Sie haben dank Schreibstipendien in den vergangenen Jahren mehrere Monate in Wien und Graz verbracht. In Ihrem neuen Buch, "Die andere Balkanroute", beschäftigen Sie sich mit der Strecke zwischen Wien und Sarajevo. Was verbindet diese beiden Städte?

In Bosnien sagen wir oft, dass Wien die Hauptstadt des Balkans ist. Als ich mein Stipendium in Wien absolviert habe, war ich im Museumsquartier untergebracht und bin häufig auf die Mariahilfer Straße spazieren gegangen. Dabei habe ich mehr Menschen gehört, die meine Muttersprache sprechen, als Deutsch. Ich habe nie das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, wenn ich in Wien oder Graz bin. Wenn ich umgekehrt durch Sarajevo gehe, erkenne ich die Architektur Wiens wieder: die Vijećnica zum Beispiel, das alte Rathaus in Sarajevo, das Nationalmuseum oder das alte Postgebäude der Stadt. Es gibt viele Verbindungen: historisch, familiär, kulinarisch, architektonisch. Wien und Sarajevo trennen zwar drei Grenzen, die Städte sind sich aber näher, als wir denken. Das trifft übrigens auch auf die Städte der Ukraine zu. Das sollten wir nicht vergessen.

Lejla Kalamujić wurde 1980 in Sarajevo geboren und ist Autorin zahlreicher Theaterstücke, Essays und der beiden Erzählbände "Anatomie des Lächelns" sowie "Nennt mich Esteban". Das Buch wurde 2016 für den Literaturpreis der Europäischen Union nominiert und ist 2020 auf Deutsch im eta-Verlag erschienen. Im Sommer 2022 erscheint der zweisprachige Essay- und Fotoband "Die andere Balkanroute - Unterwegs zwischen Wien und Sarajevo" (Brutal Beauty Publishing).

Stephan Wabl, geboren 1979, hat Lejla Kalamujić während seiner Bildungskarenz in Sarajevo kennengelernt. Er schreibt als freier Journalist über Bosnien und den Balkan.

Wiener Zeitung, 2. April 2022