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Josef Redlich: Im Schatten von Hans Kelsen#

Der Staatsrechtslehrer wurde vor 150 Jahren, am 18. Juni 1869, geboren. Er lehrte in Harvard und amtierte zweimal als "Expertenminister".#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 18. Juni 2019

Von

Gerhard Strejcek


Josef Redlich (1869-1936), hier als Reichsratsabgeordneterum 1908
Josef Redlich (1869-1936), hier als Reichsratsabgeordneterum 1908.
Foto: Name. Aus: Wikicommons, unter PD

In den letzten Wochen erfuhr die österreichische Bundesverfassung viel Lob, das im Großen und Ganzen verdient ist, im Detail aber nicht den richtigen Adressaten zugeordnet wurde. Dass Hans Kelsen im Frühjahr und Sommer 1920 als Experte im zuständigen Unterausschuss der Nationalversammlung eine gewaltige Kompilationsleistung vollbrachte, ist unbestritten. Als Verfassungsrechtler muss man das Werk Kelsens und seine große Gelehrsamkeit bewundern, ohne aber dem Irrtum zu verfallen, dem "Architekten" auch die Urheberschaft für Verfassungsnormen beizumessen, die nicht von ihm stammen.

Denn die vor Kurzem spektakulär angewendete Regel des Art. 74 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) bestand bereits wortgleich vor dem B-VG - das Misstrauensvotum war schon im älteren Gesetz über die Staatsregierung vom April 1919 geregelt. Und jene Zuständigkeiten, die Bundespräsident Van der Bellen nach übereinstimmendem Votum zügig und verantwortungsbewusst handhabte, erhielt dieses (neben der Bundesregierung) oberste Staats-Organ erst ein Jahrzehnt nach Kelsens Expertentätigkeit für die konstituierende Nationalversammlung.

Die Neuordnung der Zuständigkeiten in der B-VG-Novelle 1929, deren Berichterstatter im Verfassungsausschuss Kurt Schuschnigg war, wertete den Bundespräsidenten erst zu jenem Organ auf, das als entscheidender Faktor bei der Ernennung der Bundeskanzlerin und - auf deren Vorschlag - der Bundesregierung anzusehen ist. Dabei macht die Verfassung keinen Unterschied zwischen einer "Übergangsregierung", die sich Zurückhaltung auferlegt (self restraint), und einer frisch und frei agierenden Bundesregierung, die sich nach Neuwahlen auf eine sichere Parlamentsmehrheit stützen kann.

Dennoch ist es wichtig, Kelsens Bedeutung zu würdigen, sein Werk neu zu edieren (federführend: Mathias Jestaedt, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen) und in der Bundesstiftung Hans-Kelsen-Institut, die von Robert Walter, Heinz Mayer und dem Vizekanzler Clemens Jabloner geleitet wurde, für die Nachwelt zu bewahren.

Aber man sollte nicht in einen mitunter irrational anmutenden "Kelsen-Kult" verfallen, in dessen Schatten andere bedeutsame Staatsrechtslehrer aus Österreich unterzugehen drohen. Bedenkt man, dass Kelsen nach seiner Emigration in die USA versuchte, in Harvard Fuß zu fassen (nach einer kurzen Lehrtätigkeit im ursprünglich Mädchen vorbehaltenen Wellesley College), ihm aber die Verlängerung einer einjährigen Berufung und die Verleihung einer Professur dort aus welchen Gründen immer verwehrt blieb (er lehrte stattdessen ab 1945 bis zu seinem Tod an der University of California in Berkeley bei San Francisco Politikwissenschaft), so muss es legitim sein, auch jene beiden Altösterreicher zu würdigen, die Professuren an der renommierten Law School in Cambridge/Massachusetts längerfristig ausübten, nämlich Josef Redlich und Felix Frankfurter.

Das Grab von Josef Redlich und seiner Ehefrau Gertrud auf dem Döblinger Friedhof in Wien
Das Grab von Josef Redlich und seiner Ehefrau Gertrud auf dem Döblinger Friedhof in Wien.
Foto: © WZ-Archiv

Das Grab von Josef Redlich und seiner Ehefrau Gertrud auf dem Döblinger Friedhof in Wien. - © Archiv Das Grab von Josef Redlich und seiner Ehefrau Gertrud auf dem Döblinger Friedhof in Wien. - © Archiv

Von beiden Staatsrechtslehrern erfährt ein Jus-Studierender während seines Studiums so gut wie nichts, obwohl Redlich in Wien lehrte (von 1908 bis 1918 als ordentlicher Professor Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Technischen Hochschule Wien) und an der Alma Mater Rudolphina habilitiert war, und Frankfurter am 12. November 1882 in der Habsburger Metropole zur Welt kam. Frankfurters Familie emigrierte aber frühzeitig, sodass er seine akademische Karriere und seine Richterschaft am U.S. Supreme Court 19391962 als Amerikaner erlebte. Gleichwohl würdigen ihn alle Biografien korrekt als "Austrian-American".

Hier soll es vorrangig um die Erinnerung an Frankfurters Freund und Harvard-Kollegen Josef Redlich gehen, der vor 150 Jahren, am 18. Juni 1869 in Göding (Mähren, k.u.k. Monarchie, heute Hodonín, ČSR) geboren wurde, und der als vergleichend forschender und historisch bestens ausgewiesener Staatsrechtslehrer, aber auch als Politiker wirkte. Obwohl der Parteizugehörigkeit nach "deutschfortschrittlich", kann man Redlich ideologisch nicht klar zuordnen.

Kurzzeit-Finanzminister#

Seine Studien über das Staats- und Reichsproblem der Habsburger, die österreichischen Regierungen im Weltkrieg 19141918, seine Franz-Joseph-Biographie und die beiden ausgereiften Erstlingswerke über englische Kommunalverwaltung und das Parlamentsverfahren des britischen Unterhauses sorgten für Aufsehen. Redlichs Werk und Wirken hat ihm in Amerika und im Vereinigten Königreich große Anerkennung eingebracht; im Auftrag einer US-Stiftung analysierte er noch vor dem Krieg die renommiertesten Rechtsschulen. Im Jahr 1919 suchten die von US-Präsident Wilson entsandten Experten, darunter Archibald Coolidge, Bibliothekar aus Harvard, zunächst Redlich als Auskunftsperson in der Döblinger Armbrustergasse 15 auf, ohne dass diese ernsthaft um eine faire Friedenslösung bemühten Experten später in Paris, Versailles oder in St. Germain-en-Laye Gehör bei den Politikern fanden. Nach Missionen zu US-Staatssekretär (später US-Präsident) Hoover, zu Menschenrechtskongressen in Paris und zu seinen Londoner Freunden wirkte Redlich ab Herbst 1926 acht Jahre lang in Harvard als William-Fairchild-Stabbins-Professor im Fach Comparative Law.

Redlich, der (von 19051936) in derselben Villa wohnte wie später Bruno Kreisky, amtierte zweimal als Kurzzeit-Finanzminister. Keine der beiden recht kurzen Amtstätigkeiten als "Expertenminister" (Oktober 1918; Juni bis Oktober 1931) war von sonderlichem Erfolg oder überschwänglichem Dank - sieht man von einer geringen Pension und dem "Geheimrats"-Titel ab - begleitet, aber sie zeigten die praktischen Fähigkeiten des Staatsrechtslehrers, der zunächst im "Abwicklungskabinett" seines Fach-Kollegen Heinrich Lammasch wirkte, dem auch Ignaz Seipel als Sozialminister und der spätere VfGH-Präsident Paul v. Vittorelli als Justizminister angehörten. Der zweite Auftritt Redlichs fiel in die Ära des Bundeskanzlers Karl Buresch, dessen erstem Kabinett er angehörte, um als "Troubleshooter" die Währungskrise in den Griff zu bekommen. Doch schon am 4. Oktober 1931 resignierte Redlich, der sich Sorgen um seine Zukunft machte und lieber wieder die Professur in Harvard fortsetzte, als sich im heimischen Politikhickhack zu verheddern.

In Österreich galt Redlich somit lange Zeit als "Personalreserve" für hohe und höchste Ämter, obwohl seine Aktivzeit als Abgeordneter im "alten Österreich" stattfand. Nach seinem Studienabschluss an der rechtswissenschaftlichen Fakultät hatte er sich in der Politik engagiert und wurde als "deutschfortschrittlicher" (liberaler) Abgeordneter 1906 zunächst in den mährischen Landtag und sodann 1907 in das Abgeordnetenhaus gewählt. Als Mitglied des Reichsrats knüpfte er lebenslang wichtige Beziehungen zu allen Lagern und Nationalitäten, denn im "Unterhaus" des altösterreichischen Parlaments waren über fünfhundert Abgeordnete vertreten, die einander in zwölf Sprachen (absichtlich) missverstanden.

In der Ersten Republik nutzte Redlich seine konziliante Haltung gegenüber den Tschechen, die ihm mehrere Ministerämter in der ČSR anboten. Aber trotz der lebenslangen Freundschaft zu Präsident Masaryk, der ebenfalls aus Göding (= Hodonín) stammte, und zu anderen einflussreichen tschechoslowakischen Politikern wurde es nichts aus dem Ministeramt in Prag. Im Jahr 1931 wurde er zum Ersatzrichter am Haager Internationalen Gerichtshof ernannt, in der ersten Aufregung übersah er das Wort "deputy" (Stellvertreter) im Ernennungstelegramm und erlebte eine neuerliche Frustration aufgrund der verhaltenen Reaktionen in Wien.

"Nebenbei" verfasste Redlich, der sich dem Schreiben populärer Bücher verweigerte, ein beachtliches, heute aber fast vergessenes Œuvre. Nicht stets traf er dabei, wie sein Freund Hofmannsthal anmerkte, den richtigen Ton, mitunter bezeichnete er Politiker und Kollegen als "Trotteln" und ärgerte sich über Bürokratie und Kleinmütigkeit. Doch als Universalgelehrter im Staatsrecht konnte er Kelsen, der ihn sogar um Begutachtung des B-VG 1920 bat, durchaus das Wasser reichen.

Buchcover: Der unvollendete Staat von Gerhard Strejcek
Buchcover: Der unvollendete Staat von Gerhard Strejcek

Auch ist auf die biografische Parallele hinzuweisen, dass beide Staatsrechtslehrer ihre Wurzeln in ländlichen Regionen der k.u.k. Monarchie hatten. Kelsens Vorfahren stammten väterlicherseits aus Brody in Galizien, der Heimat des "Radetzkymarsch"- und "Kapuzinergruft"-Autors Joseph Roth, mütterlicherseits aus Nordböhmen. Redlichs Großvater Nathan hatte einst die Mühle in Göding erworben, die den Wohlstand der Familie mitbestimmte. Seine Mutter Rosa Fanto hatte slowakische Wurzeln, ihr Neffe David galt als Petroleummagnat und österreichischer "Rockefeller".

Zwei Konvertiten#

Beide Staatsrechtslehrer, die als Schüler das Akademische Gymnasium besucht hatten, entstammten jüdischen Familien und ließen sich als junge Dozenten taufen, Kelsen zunächst 1905 katholisch, dann konvertierte er 1912 zum evangelischen Glauben. Redlich trat im Jahr 1903 der evangelischen Kirche bei und sorgte für die Taufe der männlichen Verwandten. Beide stammten aus Unternehmerfamilien, wobei Kelsens Vater krankheitsbedingt seine Tätigkeit als Gaslampen-Fabrikant in der Wiedener Wohllebengasse aufgeben musste. Redlich wiederum stammte zwar aus wohlhabender Familie, konnte aber nur indirekt von der Ziegelei und der Zuckerfabrik, die sein Bruder Fritz leitete, profitieren. Vom Bauunternehmen Redlich & Berger, das sein Cousin Carl betrieb und das u.a. die Augartenbrücke, Südbahnabschnitte und das Nussdorfer Wehr errichtete, bezog er keine Einkünfte.

Während Kelsen als junger Mann für seine beiden Geschwister sorgte, kam Redlich als Familienvater für den Sohn aus erster Ehe, Hans Ferdinand, seine Gattin Gertrude und deren Familie sowie seine zwei kleinen Töchter unter materiellen Druck. Beide Staatsrechtslehrer mussten somit ihren Lebenserwerb mit Fleiß, Vortrags-Verve und Tinte selbst verdienen.

Literaturhinweise:#

  • Fritz Fellner/Ilse Corradini (Hrsg): Schicksalsjahre Österreichs. Die Aufzeichnungen und Tagebücher Josef Redlichs 18691936. Böhlau, Wien/Köln 2011, 3 Bände, 1622 Seiten, 114 Euro.
  • Gerhard Strejcek (Hrsg): Gelebtes Recht. Österreichische Verlagsgesellschaft, Wien 2013, 358 Seiten, 29,80 Euro.
  • Gerhard Strejcek: Der unvollendete Staat. Adolf Julius Merkl und die Verfassung der Republik Deutschösterreich. New Academic Press, 2019, 96 Seiten, 12 Euro.
  • Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Wiener Zeitung, 18. Juni 2019