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379Stromerzählungen
te,119 erlaubt gerade das Unzeitgemäße des Fahrzeugs eine Perspektive und eine
Lektüre, die der »Eroberung der Natur«120 zuwiderläuft. Denn der Fluss erscheint
hier als das Unverfügbare schlechthin, als »ein Ort für Zufälle«.121
Die Reise auf dem Fluss erscheint aus dieser Sicht als ein Sujet, das gegensätz-
liche Raum- und Zeitentwürfe verdichtet und verhandelbar macht. Aus Hucks
Floß-Perspektive etwa erscheint die Sesshaftigkeit als wankend, instabil und eng,
während das Floß selbst ihm sicher und »behaglich« vorkommt.122
Bezeichnenderweise wählen auch Jókais Helden am Anfang des Romans eine
den verbreiteten Donau-Darstellungen entgegengesetzte Fahrtrichtung strom-
aufwärts.123 Sie fahren aus dem Orient in den Okzident, daher haben sie auch
eine der gewöhnlichen entgegengesetzten Perspektiven auf den Strom. Statt des
zivilisatorischen Blicks, der im Fluss eine von Hindernissen befreite Wasserstraße
suchte, war dies eine Donau voller magischer Hindernisse und wundersamer
Nischen.124 Ein Goldmensch stellt damit gerade den Aufbruch in die Moderne, die
Geldwirtschaft, die Zirkulation von Waren, Rohstoffen und Zeichen in Frage
und wurde entsprechend von vielen als antikapitalistische Utopie gelesen, oder
zumindest als die Utopie eines Kapitalismus mit eigenem Gepräge.125
119 Sachslehner, Johannes: Auf Reisen im alten Österreich. Wien: Pichler 1997, p. 59.
120 Cf. Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen
Landschaft. Übersetzt von Udo Rennert. München: DVA 2007.
121 Bachmann, Ingeborg: Ein Ort für Zufälle. Rede anlässlich der Verleihung des
Georg-Büchner-Preises 1964. Berlin: Klaus Wagenbach 1965.
122 »Ich war nicht eher beruhigt, als bis das Floß zwei Meilen weiter unten und in die Mitte
vom Mississippi raus war. Dann hängten wir unsere Signallaterne auf und schätzten,
jetzt wären wir wieder frei und in Sicherheit. [...] Wir haben uns gesagt, ging doch
schließlich kein Zuhaus über so‘n Floß. Woanders kommt man sich so eingezwängt und
stickig vor, aber nicht auf ‘nem Floß. Auf ‘nem Floß, da fühlt man sich mächtig frei und
unbeschwert und behaglich.« Twain: Abenteuer von Huckleberry Finn, p. 207.
123 Reiseführer wie Reiseberichte verfolgen fast ausnahmslos die entgegengesetzte
Route. Allerdings war die Richtung auch bei Jókai mehr Programm als Erfahrung,
denn gerade bei der Darstellung der Donaukatarakte verwechselt er häufig die Rei-
henfolge der Ortschaften, Felsen und Hindernisse.
124 Durch die ungewöhnliche Blickrichtung wird selbst das Fluchtsujet des Romanbe-
ginns in sein Gegenteil gekehrt: »Mir ist«, sagt Timéa zum Kommissar, während sie
in der Kazanenge flussaufwärts schiffen, »als gingen wir durch einen langen, langen
Kerkergang ein in ein Reich, aus dem man nicht wieder zurückkehren kann.«Jókai:
Ein Goldmensch, p. 48; im Original: »– Úgy képzelem – szólt Timéa a biztoshoz
–, mintha egy hosszú, hosszú börtönfolyosón keresztül mennénk be egy országba,
amelyből nem lehet visszajönni többé.« JMÖM 24, p. 48f.
125 Cf. Sőtér: Jókai Mór u.a.
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Buch »Die Donau ist die Form« - Strom-Diskurse in Texten und Bildern des 19. Jahrhunderts"
»Die Donau ist die Form«
Strom-Diskurse in Texten und Bildern des 19. Jahrhunderts
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- »Die Donau ist die Form«
- Untertitel
- Strom-Diskurse in Texten und Bildern des 19. Jahrhunderts
- Autor
- Edit Király
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20388-9
- Abmessungen
- 15.9 x 24.1 cm
- Seiten
- 446
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Postmoderne Traditionsentwürfe bei Claudio Magris und Péter Esterházy 11
- Magris: Der Fluss aus dem Wasserhahn 13
- Esterházy: P. E. – c’est moi 15
- Die »Erfindung einer Tradition« 18
- Donau-Schrifttum im 19. Jahrhundert 18
- Geschichte und Natur – Modelle einer Beziehung 23
- Die »Eroberung der Natur« oder eine »friedliche [...] Mission«? 27
- Die Rede über die Donau im 19. Jahrhundert: Majestät im
- Bettlergewand 31
- Ansatzpunkte zu einer Geschichte der Donauregulierung im 19. Jahrhundert 34
- Regulierungsdispositiv und Regulierungsdiskurs 40
- Staat und Regulierung 41
- Regulierungsmacht und Kultivierungsauftrag 41
- Zentralistischer Staat und Verkehrsförderung 44
- Wasserstraße und Eisenbahn – Konkurrenz von Technologien 44
- Gewässerregulierung und Wasserstraßennetz im Habsburgerstaat des 18. Jahrhunderts 45
- Konzepte der Donauregulierung im 19. Jahrhundert 47
- Nachschublinien 52
- Regulierungsvorhaben des 19. Jahrhunderts – Überblick und Fallbeispiele 54
- Die »Verbesserung« der Donaulandschaft im 19. Jahrhundert 54
- Die Donau als Ganzes 55
- Die große Donauregulierung in Wien: Lokales versus Globales 56
- Die große Donauregulierung bei Wien: Vorrang der Interessen der Schifffahrt 57
- Diskussionen um die große Donauregulierung bei Wien 62
- Das Eiserne Tor 64
- Rechtliche Grundlagen 67
- Technische und Finanzierungsschwierigkeiten 70
- Folgen der Regulierung 72
- Zusammenfassung 74
- Reales und Imaginäres 76
- Diskurs(e) und Regulierung 80
- »durch Gehorsam besiegen« 80
- »von der Natur selbst vorgezeichnet« 81
- Die natürliche Wasserstraße, Regulierung als Disziplinierung 82
- Das Paradies der Auwälder 84
- Das ökonomische Moment 87
- Zirkulation 88
- Wasserstraßen, Warenflüsse, Menschenströme 91
- Lebensader der Monarchie 91
- Belebungs- und Störfaktoren 96
- Zusammenfassung 99
- Die Feuersäule des Weltverkehrs 101
- Reisen unter Dampf 103
- Das Dampfschiff 103
- Anfänge der Dampfschifffahrt – »eigentlich sogenannte Dampfschiffe« und Donaudampfschiffe 106
- Die Etablierung der Dampfschifffahrt auf der Donau 116
- Altes und Neues 117
- Die Donau als »Welthandelsstrasse« 120
- Monopole 124
- Zusammenfassung 124
- A Steam Voyage down the Danube 126
- Die Wahrnehmung einer Einheit 127
- Reiseberichte über die ersten Dampfschifffahrten auf der unteren Donau 1835 bis 1845 130
- Britische und deutsche Perspektiven 138
- Annäherung en gros und en détail 140
- Erwartung und Erfahrung 144
- »Watt’s und Fulton’s titanische[.] Erfindung« 148
- Gleiten, Sehen, Panorama 152
- Zusammenfassung 154
- Die Erfindung des Donauraums 155
- Raumsoziologische Begrifflichkeiten 158
- Topologische Modelle 161
- Imaginierte Geografien 162
- Balkanismus und Donauraum 166
- Mitteleuropa und Donauraum 168
- Band zwischen Okzident und Orient 177
- Das Entdeckungsszenario 179
- Todesfluss – Alexander Kinglake 184
- Aus dem Garten in die Wildnis 188
- Zusammenfassung 194
- Die Donau als Landschaft – Sicht und Übersicht 197
- Reisen beschreiben – Beglaubigungsstrategien des Authentischen 200
- Schreiben, Lesen, Reisen – Apodemiken 201
- Das »subjektive« Reisen 203
- Reiseliteratur als Werkstatt und als Fabrik 207
- Reisebewegung, Blicke und Räume 208
- Bürgerliche Reise und Territorium 209
- Donaufahrten auf dem Papier 210
- Das Gebot der Visualisierung 213
- Sehen was nicht (mehr) zu sehen ist 214
- Landschaft als Bild 217
- Natur als Landschaft 218
- Raumbeschreibung und Raumschöpfung in der Literatur 221
- Wandel der Wahrnehmungsstrukturen 223
- Die »malerische Donaureise«. Kanonisierung von Bildserien 225
- Mappenwerke und illustrierte Reisebeschreibungen 229
- Neue Vervielfältigungstechniken – Lithografie, Stahlstich, Fotografie 251
- Prachtbände: Enzyklopädische illustrierte Wanderungen 257
- Reise quer durch das Quellenmaterial 258
- Literatursoziologische Kontexte 261
- Wort und Bild 263
- Das Malerische in der (Reise-)Literatur 265
- Das Gemälde der Natur 266
- Malen im Kopf 268
- Blickregie 269
- Zeichner und Reiseschreiber: Felix Philipp Kanitz 273
- Der bereiste Raum 274
- Die Reise auf dem Papier 276
- Bedeutung von Karten, Bildern und Panoramen 278
- Was die Karte nicht fasst 280
- Die Sichtbarwerdung einer Region 282
- Zusammenfassung 283
- v. Historisierung der Donau-Landschaft 285
- Optische Inszenierung einer historischen Landschaft 287
- Himmelsdom und Ruhmeshalle: Der Blick von der Walhalla 292
- Historische Narrative 298
- Geschichtsfluss, Erzählfluss 298
- Schleifen und Linien in der Zeit 300
- Reise als Form der Geschichte 302
- Geschichte aus der Erdoberfläche 305
- Der geschichtsträchtige Fluss 308
- »Das Alpha und Omega Österreichs« 311
- Rhein – Donau: literarische Parallelen 311
- Der Strom einer deutsch-österreichischen Kulturmission 314
- Historische Donaureisen: Der große Schwabenzug 317
- Die historische Performance der ungarischen
- Milleniumsausstellung 324
- Die Millenniumsfeier 1896 – konfligierende Konzepte 326
- Die Welt als Kulisse in der Millenniumsfeier 330
- Vollzug und Übertragung in der Feier 332
- Landnahme und Landkörper 333
- Nationales Territorium als Echo- und Theaterraum 335
- Inszenierungen der Stromregulierung 1896 336
- Mediale Aufbereitung des Eisernen Tores 337
- Die Eröffnungszeremonie 338
- Auslegungen der Feier 339
- Tausendjahre-Symbolik: Eingemeindung und Ausgrenzung 340
- Tor und Epochenschwelle 342
- Zusammenfassung 343
- Topik und Topographie der Schwelle 345
- Schwellenkunde 346
- Das Eiserne Tor – widersprüchliche Einschreibungen 346
- Topoi der Eisernen-Tor-Regulierung 351
- Die Insel an der Grenze: Ada Kaleh 356
- Das Eiserne Tor als literarische Heterotopie 362
- Raumzeit 365
- Topik der Insel an der Grenze 367
- Eine Insel, zwei Inseln 368
- Die Utopie der Niemandsinsel 369
- Reisen horizontal und vertikal 371
- Navigieren, Steuern, Schreiben 373
- Stromerzählungen 375
- Die Lesbarkeit der Schöpfung 380
- Zirkulation der Zeichen 381
- Gattungsdilemmata der Literaturgeschichte 383
- Navigieren – erzählen 384
- Zusammenfassung 388
- Resumee 389
- Literaturverzeichnis 391
- 1) Quellen 391
- 2) Literarische, philosophische und publizistische Referenztexte 403
- 3) Forschungsliteratur 406
- 4) Nachschlagwerke, Lexika 426
- Abbildungsverzeichnis 427
- Personenregister 430
- Sachregister 439