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oktober 1911 457
Betrug, so weiß ich gar nicht, was ich damit anfangen soll. Wer
80 hungert, dem kann ich seinen Hunger stillen; wer mir aber, ohne
zu hungern, Diskussionen über seinen Hunger hält, den er nicht
hat, macht mich ratlos; der Menschen Sorgen um Empfindungen,
die sie nicht haben, kann ich nicht teilen. Schnitzler aber zwingt
mich dennoch dazu, durch das Vergnügen, das mir seine Kunst der
85 Darstellung macht; ich kann es etwa mit dem Vergnügen an Ent-
wicklungen der mathematischen Phantasie vergleichen, von denen
ichauchnursovielverstehe,daßdabeigroßeSchwierigkeitenbewäl-
tigt werden müssen, was schließlich doch meinen Menschenstolz
befriedigt.
90 Unter den Menschen dieses Stücks, von denen ich den Eindruck
habe, daß sie sämtlich keines wirklichen Gefühls fähig, aber eben
darum stets auf der Jagd nach einem sind, steht obenan Herr Fried-
rich Hofreiter, Glühlichterfabrikant im großen Stil, mit Unterneh-
mungenbisnachAmerikahinüber, auchbeiFrauenunternehmend,
95 mehrausschlechterGewohnheit,wieesscheint,oderweilsnunein-
mal dazu gehört, als aus Sinnlichkeit oder gar aus Leidenschaft. Er
weiß, daß seine Frau davon weiß, und er nimmt an, daß sie sich
damit abgefunden hat. Da er, wie im Tennis, so gelegentlich auch
alsPhilosophexzelliert, redeter sichein, erkönnteesi ihrnichtver-
100 denken, wenn ihm seine Untreue von ihr vergolten würde. Er hat
einen russischen Pianisten zum Freund, oder besser gesagt, er hält
sich einen russischen Pianisten als Freund, und mit diesem hat er
seine Frau in Verdacht. Der Russe erschießt sich, wodurch jener
Verdacht wächst, Herr Hofreiter ist noch immer nicht eifersüchtig,
105 es interessiert ihn nur, als psychologisches Problem, er will wissen,
wie das eigentlich war; er will, wie er sich ausdrückt, wenn er auch
ein Ehemann ist, ja kein Trottel sein. Seine Frau gesteht, daß der
Russesichgetötethat,weilsie ihnnichterhörthat;seinletzterBrief
beweist es. Wieder ein psychologisches Problem für Herrn Hofrei-
110 ter: Hat seine Frau rechtgetan, durch ihre Tugend einen Menschen
indenTodzutreiben?Esist ihm»einfachunheimlich«.ImGrunde
nimmt er es ihr eigentlich übel. Was ist Tugend? »Etwas, das doch
inWirklichkeitgarnichtist–einSchemen,einPhantom,einNichts,
wenigstens einem so furchtbaren Ding gegenüber, einem so irrepa-
115 rablen wie der Tod!« Er kann es nicht verstehen. Gar da ihr der
Tote doch sehr gut gefallen hat, da sie fast »ein bissel verliebt« in
ihn war und zur ehelichen Treue doch wahrhaftig keinen Anlaß
hatte!Esmachtihnganznervös.Sonervös,daßerjedenfallsfüreine
Zeit von ihr weg will, und zwar in seiner Nervosität gerade in das
120 Alpenhotel, wohin eben auch die kleine Erna geht, ein vorwitziges
jungesMädchen,dasernunaufeinmalreizenderfindet,alserbisher
bemerkt hat. Dieses Alpenhotel wird uns nun in Funktion gezeigt,
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Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Title
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Subtitle
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Editor
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Size
- 14.6 x 23.4 cm
- Pages
- 1010
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- 1891 7
- 1892 18
- 1893 31
- 1894 64
- 1895 91
- 1896 115
- 1897 135
- 1898 160
- 1899 167
- 1900 173
- 1901 192
- 1902 222
- 1903 246
- 1904 288
- 1905 338
- 1906 371
- 1907 386
- 1908 401
- 1909 413
- 1910 433
- 1911 447
- 1912 463
- 1913 480
- 1914 492
- 1915 497
- 1916 502
- 1917 507
- 1918 510
- 1919 526
- 1920 536
- 1921 539
- 1922 547
- 1923 570
- 1924 583
- 1925 584
- 1926 585
- 1927 586
- 1928 588
- 1929 590
- 1930 593
- 1931 598
- 1932 604
- 1934 606
- 1936 607
- 1962 610
- Quellennachweis und Erläuterungen 632
- Buchausgaben im gegenseitigen Besitz 787
- Theaterbesuche 792
- Auszüge aus Schnitzlers Tagebuch 793
- Editorische Richtlinien 796
- Die Korrespondenz Bahr –Schnitzler 813
- Nachwort 820
- Dank 864
- Verzeichnis der Dokumente 866
- Korrespondenzpartner 902
- Register 916