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1962 621
erste Begegnung hat Schnitzler völlig gefangen genommen – es war
ihm klar, in Mahler einen der wenigen großen Menschen zu sehen,
480 denen er je begegnet war, und eine tiefe, fast schüchterne Liebe zu
Mahlerhat ihnseitherniemehr verlassen.
Symbolisch für Mahlers Grundstimmung erschien ihm der erste
Satzi der dritten Symphonie – die Vision einer vorbeiflutenden
Volksmenge, die sich marschierend einer unbedenklich brutalen
485 Lustigkeit hingibt, während er selbst, als einsamer Zuschauer am
Rande stehend, alle Stimmen tiefer Welterkenntnis und dämonisch
aufgewühlter Melancholie übermächtig aus sich hervorbrechen
fühlt. Dieser Seelenverfassung wußte Schnitzler sich im Innersten
nah und verwandt, und aus mancher Stelle seines eigenen Werkes
490 töntgleicheSehnsucht,gleichesWissenundgleicheTrauer.
Bahrs Buch über Wien, ein einziger scharfer Peitschenhieb, ist die
bittereAnklage,inderersichendlichallesvomHerzenschreibt,was
ihnimLaufderJahrebiszumRandemitZornerfüllthat.Ermöchte
am liebsten diesem Wien »die alten Fetzen vergangener Schönheit
495 vom Leibe reißen, die seine Schäden decken, wie es denn nur durch
eine rauhe Jugend zu retten wäre, die grausam es erst aus seinem
LeichentuchvonSchönheit risse...«
DerMenschistverboten,sagtBahr;ermeint:diePersönlichkeit.Sie
war inÖsterreichniegerngesehen.DemBeispiel seinesHerrschers
500 folgend,istEinordnunggeboten,jedesHervortretenscheintunziem-
lich.Lautlosigkeit,Zurückweichen,Umgehenwirdgeübt,woBahr
weithin hörbare Auseinandersetzung, sichtbare Stellungnahme for-
dert.InwenigenLändernistsovielTalentzufinden,dassichachtlos
verspielt, namenloses Volkslied wird, zu schönen Farben, Formen,
505 Hausrat aufgeblüht,ohneviel Wesensaus sichzumachen.
Zu Ehren Gottes und der Heiligen sind seine Holzfiguren
geschnitzt,blühtseineMalerei,undkunstvoll feineEisengitterdrän-
gen so leicht wie undurchdringlich den derben Griff der Wirklich-
keitvonallenHochaltärenseiner Imaginationzurück.
510 Die widerspruchsvolle Geste zwischen Hochmut und Beschei-
denheit, die Selbstverständlichkeit und Würde uralten Reichtums
kommt überall zum Vorschein, bis in die kaiserliche Schlichtheit
vonSchönbrunn,daserstbeinäheremZusehenseinePrachtenthüllt.
BahrhörtprophetischdasfernedumpfeSchüttern,dasdiesesÖster-
515 reichuntergrabenwill.
»In die Lustigkeit unseres alten Österreich klingt ein Schluchzen,
ausder Ferne...« sagter.
»Ich habe den Verdacht«, schreibt er, »als ob das Sein niemals, daß
immernurdasWerdenschönsei!«EinewigwerdendsichWandeln-
520 der, vorwärts Flüchtender ist er selbst, untreu dem Gestern, unstet
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Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Title
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Subtitle
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Editor
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Size
- 14.6 x 23.4 cm
- Pages
- 1010
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- 1891 7
- 1892 18
- 1893 31
- 1894 64
- 1895 91
- 1896 115
- 1897 135
- 1898 160
- 1899 167
- 1900 173
- 1901 192
- 1902 222
- 1903 246
- 1904 288
- 1905 338
- 1906 371
- 1907 386
- 1908 401
- 1909 413
- 1910 433
- 1911 447
- 1912 463
- 1913 480
- 1914 492
- 1915 497
- 1916 502
- 1917 507
- 1918 510
- 1919 526
- 1920 536
- 1921 539
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- 1923 570
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- 1928 588
- 1929 590
- 1930 593
- 1931 598
- 1932 604
- 1934 606
- 1936 607
- 1962 610
- Quellennachweis und Erläuterungen 632
- Buchausgaben im gegenseitigen Besitz 787
- Theaterbesuche 792
- Auszüge aus Schnitzlers Tagebuch 793
- Editorische Richtlinien 796
- Die Korrespondenz Bahr –Schnitzler 813
- Nachwort 820
- Dank 864
- Verzeichnis der Dokumente 866
- Korrespondenzpartner 902
- Register 916