Page - 46 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer

Dickers und Singers künstlerische Ausbildung46 ihm in Wien entgegengebracht wurde und zeigen darüber hinaus die Fortschrittlichkeit der Kunstgewerbeschule unter Alfred Roller.103 Dicker beschreibt diese Zeit rückblickend in einem Brief aus Berlin an ihre Freundin Anny Wottitz 1922/1923: „Gestern erzählte ich von Wien. Von unserer Atelierausstellung u.s.w. [...] Damals war es schön. Man hatte einen Grund und Boden; Itten. Opposition als einzigen Gradmesser, Mut, der alle Ver- wirrung nicht gekannt oder unterschätzt hat; einfach sich. Und doch tausch ich heute nicht, und mit nichts.“104 Vermutlich zu Beginn des Jahres 1919 vermittelte Alma Mahler ihrem Mann Wal- ter Gropius den Kontakt zu Johannes Itten, der ihn schließlich als Lehrkraft für das in Planung befindliche Bauhaus in Weimar gewinnen konnte.105 Ende Februar 1919 hatte er bei Itten dafür brieflich angefragt. Nachdem Itten sich vor Ort über die neue Schule informiert hatte, gab er im Juni seine Zusage.106 In einem Brief von September 1919 er- kundigt sich Itten allerdings noch besorgt bei Gropius bezüglich der Wohnungsfrage in Weimar: „Mein Schüler Franz Singer ist seit 10 Tagen in Weimar und sucht Wohnungen für meine Wiener Schüler und mich aber ohne jeden Erfolg. Kann die Wohnungsfrage nicht gelöst werden, so fällt natürlich alles dahin. Denn alle Schüler im Stich lassen kann ich nicht [...] Die Wohnungsfrage ist das Einzige was mich die ganze Zeit bedrückt. Für alles andere freue ich mich nun wirklich sehr und hoffentlich wird alles gut werden.“107 Anfang Oktober zog Itten mit seiner Frau Hildegard Anbelang schließlich nach Wei- mar.108 Die 21-jährige Friedl Dicker und der 23-jährige Franz Singer folgten ihm mit weiteren Wiener SchülerInnen nach Weimar. Nach dem Krieg, dem Zusammenbruch der alten Ordnungen in Staat, Gesellschaft und im kulturellen Bereich war das Bauhaus die Hoffnung auf einen grundsätzlichen Neuanfang. Dicker und Singer, die aus dem Umkreis der Wiener Jugendbewegung kamen und von lebensreformerischen Idealen durchdrungen waren, bot sich hier die Hoffnung, eine bessere und sozial gerechtere Welt zu gestalten.109 103 Ebd., S. 250. 104 UAKKA, Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert, um 1922/1923, Inv.-Nr. 13.702/5. 105 Badura-Triska 1990b, S. 20. 106 Ebd., S. 20–21. 107 Brief Johannes Itten an Walter Gropius, undatiert, nach 19.9.1919. Zitiert nach: Kat. Ausst. Kunst- sammlungen zu Weimar 1994, S. 449, Dokument 9. 108 Badura-Triska 1990b, S. 20–21. 109 Hahn 1994, S. 16–17. © 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0