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Dickers und Singers künstlerische
Ausbildung56
2.2.2 Unterricht
Zentrale Grundidee in Gropius’ Bauhaus-Manifest ist die Vereinigung von Kunst und
Handwerk, um als „Endziel aller bildnerischen Tätigkeit“ den „neuen Bau der Zukunft“
zu schaffen. In Abgrenzung zu den Kunstakademien und Kunstgewerbeschulen forderte
Gropius daher: „Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück!
Denn es gibt keine ‚Kunst von Beruf‘. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem
Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. [...]
Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung,
die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte!“166
Gropius’ Forderungen hatten Vorbilder.167 Bereits in Henry van de Veldes Kunstgewer-
beschule war die praktische Werkstattarbeit für die Ausbildung vorgesehen und diente
neben der Lehre auch der Produktion.168 Gropius’ Besuche in Wien könnten ebenso
inspirierend für seine neue Schule gewesen sein. Rainer Wick hat dazu angemerkt, dass
auch die Wiener Kunstgewerbeschule bereits Versuche unternommen hatte, einen Werk-
stattbetrieb einzuführen und die Wiener Werkstätte zwar nur in „einem sehr erweiter-
ten Sinne ein pädagogisches Motiv in den Mittelpunkt“169 rückte, nämlich jenes der
Geschmackserziehung durch Qualitätshandwerk, aber dennoch als jener Ort betrachtet
werden könne, an dem die Wiener Kunstgewerbeschule „ihre eigentliche Erfüllung“170
fand.
Ittens Wiener Tagebuchaufzeichnungen zeigen, dass er sich in Wien nicht nur mit
Fragen der künstlerischen Gestaltung beschäftigte, sondern auch Gegenstände des all-
täglichen Gebrauchs sowie Bauten entwarf und ihm demnach jene „Synthese von Kunst,
Handwerk und Architektur, wie sie an der Wiener Kunstgewerbeschule angestrebt“171
wurde und die Gropius für das Bauhaus forderte, bekannt war.172 Mit Itten hatte Gropius
damit einen Künstler gewinnen können, der einem „Mit- und Ineinanderwirken aller
Werkleute untereinander“173, nämlich von Architekten, Malern und Bildhauern, positiv
gegenüberstand. 1919 hielt Itten in seinem Tagebuch zu dem geplanten Weihnachtsfest
am Bauhaus fest: „Bauhaus / bauen / aufbauen / zusammenfügen – Leute verschiedener
166 Walter Gropius, Bauhaus-Manifest, April 1919, in: Wingler 20024, S. 39.
167 In seinem Buch Staatliches Bauhaus Weimar von 1923 gibt Gropius als Vorläufer dieser angestrebten
Verbindung von Kunst und Handwerk John Ruskin und William Morris, Henry van de Velde,
Joseph Maria Olbrich, Peter Behrens und den Deutschen Werkbund an. Vgl. Gropius 1923, S. 8.
168 Hahn 1994, S. 21.
169 Wick 1994a, S. 12–13, 17.
170 Ebd.
171 Wick 2011, S. 15.
172 Ebd.
173 Walter Gropius, Bauhaus-Manifest, April 1919, in: Wingler 20024, S. 39.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482