Page - 111 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
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Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 111
Aufricht, dem stellvertretenden Direktor und Darsteller des Lanzelot, sagten weder die
Kostüme noch das Bühnenbild zu. Überspitzt bemerkt er im Rückblick: „Die Dicker war
ein winziges Fräulein, das immer an einer Handarbeit stickte. Sie war jedem Einspruch
vollkommen verschlossen und verehrte den Singer, einen hageren blonden in einer Rus-
senbluse. Die Dekoration bestand aus Kuben, Würfeln und spanischen Wänden. [...]
Viertel, der mit dieser Aufführung originell sein wollte, lehnte alle meine Einwände ab.
[...] Kortner trat in der ersten Kostümprobe in einer schwarzen Tonne auf, die nur die
Unterarme frei ließ. Nach den ersten Sätzen zerfetzte er zu meiner Genugtuung seine
Zwangsjacke und zog ein eignes Kostüm an.“82 Und auch der Theaterkritiker Julius Bab
war wenig überzeugt von den Kostümen Dickers und Singers: „Diese Inszenierung des
‚Kaufmann von Venedig‘ stand leider unter dem Zeichen eines dekorativen Elements,
von dem abzusehen nur in wenigen Augenblicken gelang. Die Maler (Franz Singer und
Frieda Decker [sic!]) hatten sich der russischen Mode hingegeben: farbiger Kubismus,
blauweißgestreifte Leinewand als Luftprospekt, bunte Vorhänge, einige Stufen, aus-
tauschbare bunte Blöcke bilden die Szene. Kostüme möglichst als Würfel oder Kugeln
wirkend — Kopfbedeckungen im Stil von Wagenrädern oder Ofenröhren. Dieser exzen-
trische Spielschachtelstil kann auf das Theater innerlich angewandt nur die Zurückdrän-
gung des Schauspielers zur denaturierten Marionette bedeuten. [...] Erstaunlich, daß ein
Künstler wie Viertel der Suggestion einer nichts als merkwürdigen Mode soweit erliegen
kann, um dergleichen nicht zu spüren.“83 Und auch der Theaterkritiker Alfred Döblin
kommt wie Bab zu dem Schluss, dass Dicker und Singer mit den „Kulissen, in prächtig
konstruktivistischen und kubistischen Kostümen“ gezeigt hätten, „was sie am Weimarer
Bauhaus gelernt [...] und was sie den Russen [...] abgesehen“ hätten; außerdem, dass
mit den Kostümen ein lebhaftes Schauspiel verhindert worden wäre: „Und hier liegt
der Hund begraben: man kann nicht auf dem Kopf stehen und zugleich auf den Beinen
normale Gehbewegungen machen (ich meine: der Hund bei Berthold Viertel). Man
spielt Shakespeare gut, solide, aber oft sehr lebendig, aufgelockert und frisch durchdrun-
gen, manches traditionell, vieles sehr poesievoll, fabelhaft und naturalistisch: es kümmert
sich niemand um sein Kostüm. Das heißt: es waren konstruktivistische Maler da und
shakespearespielende Mimen.“84 Die an Schlemmer angelehnten Kostüme von Dicker
und Singer wurden demzufolge als problematisch empfunden, da sie lediglich einem
klassischen Bühnenstück aufgestülpt worden waren. Schlemmer hingegen hatte seine
Kostüme für das völlig neuartige „Triadische Ballett“ entwickelt.
82 Aufricht 1966, S. 53–54.
83 Bab 1923, S. 2.
84 Alfred Döblin, Der halbentfesselte Tairow, 19.9.1923, in: Beyer 1976, S. 207.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482