Page - 169 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
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Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 169
Nach dem Krieg, den Singer eine Zeit lang in einem Internierungslager in Großbri-
tannien verbringen musste, bittet er um ein Lebenszeichen von Schrom: „Meine liebe
Poldi! Vor ein paar Tagen – ich bin gerade krank im Bett gelegen – hat mich die Hedi258
angerufen. Sie hat mir erzählt, daß gerade eine Wiener Bekannte bei ihr ist, die aus Wien
einen Brief hatte, in dem sowohl Sie als auch Nusi [Szabó] genannt werden! Ich habe
mich unendlich darüber gefreut!! Das erste Lebenszeichen von Euch beiden! Leider sind
keine Adressen genannt. So versuche ich es doch noch einmal an die alte Adresse zu
schreiben (Ich habe das vor langer Zeit schon einmal getan, gleich wie der Postverkehr
eröffnet wurde – aber ohne Antwort. Vielleicht ist der Brief verloren gegangen?) Ich flehe
Sie an, gleich zu antworten, falls Sie diesen Brief bekommen. Schreiben Sie bitte wie es
Ihnen ergangen u. wie es Ihnen geht u. auch vor allem alten Freunden u. Bekannten,
soweit deren Schicksal Ihnen bekannt ist. Und bitte Adressen! Und was Sie brauchen u.
wünschen. Soweit ich kann, möchte ich gerne helfen! – Ich bin so kurz, weil ich ja nicht
weiß, ob dieser Brief Sie erreicht?? Alles Liebe und Gute!! Schreiben Sie gleich Ihrem
alten Freund Franz Singer.“259
Zwei Monate später antwortet Schrom ausführlich. Aus ihrem Brief wird die Tragik
der nationalsozialistischen Diktatur und des Krieges deutlich: „Also: ich lebe und habe
Ihren Brief vom 4.XI.46 erhalten. Vorher ni[cht]s. Was kein Wunder ist. Es verschwin-
den spurlos Menschen, ganze Waggons, etc. – was ist da ein Brief!? Nusi lebt auch, das
gehört bereits in die Kategorie ‚Wunder‘.“ [...] „Unsere Handwerker leben, bis auf Son-
nenschein. [...] Von Strass hoffe [ich], dass er nach England gekommen ist. Dittler ist
nach der Befreiung nach einer Operation gestorben. Wejtasa lebt – [...] Julius Donner ist
noch in Gefangenschaft – [...] Schlosser Gowal auch zurück, der alte geblieben lässt grüs-
sen.[...] Denes lebt, Nusi traf ihn in Pest, aus dem Lager Belsen kommend. War erschüt-
tert, denn er verabschiedete sich von mir, um nach Neuseeland zu fahren. [...] Irma260 ist
tot. Selbstmord. 10 Tage nach der Beerdigung. Es war draussen in Villengegend sehr arg.
Ihre Schwägerin hat langsam den Verstand darüber verloren und starb ihr nach. [...] Und
Fritz Lederer261 ist tot. Er war für viele ein ruhiger Pol, so lange er da war. Die Tragik war
258 Gemeint ist wahrscheinlich die Montessori-Pädagogin Hedwig Schwarz, die wie Singer nach Lon-
don emigrierte. Sie war Leiterin des Montessori-Kindergartens im Goethehof in Wien, den das
Atelier von 1930–1932 gestaltete.
259 AGS, Brief Franz Singer an Leopoldine Schrom, 4.11.1946.
260 In der Familie Schrom wird vermutet, dass es sich um die Jüdin Irma Stadler (Mädchenname un-
bek.) handeln könnte, die mit Leopoldine Schrom befreundet und mit dem Chemiker Josef Stadler
verheiratet war. Leopoldine Schrom erwähnt „Irma“ 1934 in einem Brief an Singer und auch Singer
richtet in einem Brief von 1936 Grüße an „Irma“ aus. Demzufolge arbeitete sie vermutlich zeitweise
im Atelier von Franz Singer. Siehe: AGS, Brief Leopoldine Schrom an Franz Singer, 27.7.1934; Brief
Franz Singer an Leopoldine Schrom, 1.4.1936.
261 Fritz Lederer fungierte für das Atelier in Patent-Angelegenheiten.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482