Page - 183 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
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Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 183
wurde im August 1931 im Kölner Tageblatt veröffentlicht (Dok. 2). Möglicherweise ist
das erhaltene Manuskript ein erster Versuch, die Ziele festzuhalten, da diese im zweiten
Text kürzer und prägnanter formuliert werden und auch der Titel „Das moderne Wohn-
prinzip“ eingängiger wirkt als der Titel des Manuskripts.
In beiden Schriften wird auf die beschränkten Wohnverhältnisse hingewiesen und
die daraus entstandene Idee der Konzeption von Wohnräumen, die mehrere Funktio-
nen miteinander verbinden. Im Text „Das moderne Wohnprinzip“ heißt es dazu: „Die
geringe Zahl meist enger Räume gestatten nicht [sic!], sie für einen Einzelzweck dem
ständigen Gebrauch zu entziehen. Ein Wohnzimmer ist zugleich Esszimmer, oft Gast-
zimmer, das Schlafzimmer ist zugleich Arbeitszimmer und alle Räume müssen für den
Tagesaufenthalt zu verwenden, müssen verwandelbar sein.“59 Dieser Haltung entspricht
der Inhalt des Manuskripts: „Es mussten wegfallen: das Staatszimmer und dessen Gegen-
stände, längst komisch, im täglichen Gebrauch aber unerträglich. Nippes, Decken und
Schoner sind im Aussterben [...]. [Der] Mensch muss nun von seiner Einrichtung das
folgende verlangen können: in wenigen Räumen alles zum Leben Erforderliche unter-
bringen zu können, alle, also auch die Schlafräume tagsüber verfügbar zu haben, sie stets
mit der kleinsten Mühewaltung, wenigem oder keinem Personal in Ordnung halten zu
können. Zu diesem Zweck muss der Raum aufs äusserste ausgenützt werden.“60
Die Nutzung eines Raumes zu verschiedenen Zwecken wurde vor allem mit den
Klein- und Einraumwohnungen für Heller, Reisner, Lehr, Reiner-Lingens, Breslauer,
Schwarz, aber auch bei Projekten wie dem Montessori-Kindergarten im Goethehof, dem
Gartenhaus Moller, der Wohnung Taglicht, der Ordination für das Ärztepaar Deutsch,
dem Gästehaus Auersperg-Hériot und der Wohnung für die Tänzerin Harmel-Rubin-
stein verwirklicht. Darin spiegelt sich das zeitaktuelle Thema der Wohnungsknappheit in
Wien wider, dem neben der Erbauung von Gemeindewohnungen auch durch Teilungen
von Großwohnungen in Kleinwohnungen entgegengewirkt wurde.61
Als Konsequenz der sich verkleinernden räumlichen Verhältnisse ergab sich daraus für
die Ateliergemeinschaft die Entwicklung von Möbeln mit den Eigenschaften „Raumer-
sparnis und Verwandelbarkeit“62. Die Forderungen an die Möbel lauteten: „Das Möbel
öffentlicht. Im Ausstellungskatalog aus dem Jahr 1988 wird angegeben, dass der Text bereits 1927
entstand. Siehe: Schrom 1988, S. 10. Diese Datierung kann mit der Publikation im Jahr 1931
widerlegt werden, da eine frühere Datumsangabe bisher nicht bekannt ist. Der Autor des Textes
wird nicht angegeben. Aufgrund der Wortwahl und den inhaltlichen Parallelen zum Textentwurf
„Wohnen – selbst im Raum beschränkt wohnen – ein Vergnügen“ aus dem AGS, kann das Atelier
als Urheber angenommen werden.
59 Kölner Tageblatt 1931.
60 AGS, Textentwurf „Wohnen – selbst im Raum beschränkt wohnen – ein Vergnügen“.
61 Witt-Dörring 1980, S. 35.
62 Kölner Tageblatt 1931.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482