Page - 209 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer

Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 209 geforderten Multifunktionalität etwas Selbstzweckhaftes anhaftete“99 und die BenutzerInnen durch den Prozess des Schiebens und Klappens bei der Nut- zung der Möbel aktiv in den neuen Kunstbegriff mithilfe einer „taktilen Erfahrungsebene“100 einbezogen wur- den. Dies lässt sich auch für Dicker und Singer beobachten: Durch die Heraus- nahme der beispielsweise in den „Kis- tenkasten“ eingeschachtelten Tische und Stühle wurde der Schrank ähnlich einem Baukasten genutzt. Sitzmöbel verwandelten sich durch Herunter- klappen der Lehne in Würfel. Der spielerische Umgang mit Beweglichkeit erinnert auch an Möbel der in Frankreich tätigen irischen Designerin Eileen Gray (1878–1976). Mit der Bewegung ihres 1932 bis 1934 entwickelten S-Stuhls, der sich platzsparend zusam- menfalten ließ, verbanden sich vielmehr ästhetische als praktische Aspekte (Abb. 154).101 Demzufolge wurden „elementaristische Vorstellungen aus der Kunst in die angewandten Bereiche“102 übertragen. Stöppel interpretiert die Klapp- und Schiebefunktionen im Mö- beldesign dieser Zeit als „neuartigen Umgang mit Gegenständen und Objekten“, um so im Übertragenen „eine utopische Neuordnung der Welt in Gang zu setzen“.103 Bei Dicker und Singer kann zudem Ittens Maxime von Bewegung und Rhythmus als existen- ziellem Urprinzip als grundlegend angenommen werden, nach der sich „alles Lebendige [...] dem Menschen durch das Mittel der Bewegung“104 zeigt.105 99 Stöppel 2016, S. 143–144. 100 Stöppel 2016, S. 135. 101 Im niederländischen Bouwkundig Weekblad wurde über Eileen Grays Raumgestaltungen am 14.7.1923 festgehalten: „Die Verwandtschaft mit ‚De Stijl ist augenfällig, weniger orthodox und weniger puristisch.“ Zitiert nach: Adam 2007, S. 73. 102 Stöppel 2016, S. 154 103 Stöppel 2016, S. 135–136. 104 Itten 1921, S. 33. 105 Wick 1994b, S. 138. Abb. 154: Eileen Gray, S-Stuhl, entworfen für Villa Tempe à Pailla, in voller Größe und zusammenge- klappt, 1932–1934, V&A. © 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0