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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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Kindes propagiert wurden.240 Obwohl Buscher den reformpädagogischen Ansätzen nahe
kam, ordnete sie sich jedoch nicht dort ein und ging sogar darüber hinaus: „Die Spiele,
die ich für Kinder baute, nenne ich freie Spiele, im Gegensatz zu den Fröbel- und Pes-
talozzispielen, die aus rein pädagogischen Überlegungen geschaffen wurden.“241 Dicker
und Singer hingegen waren mit den reformpädagogischen Strömungen enger verbun-
den. Die italienische Medizinerin und Reformpädagogin Maria Montessori pflegte eine
besondere Beziehung zu Wien und war seit 1924 regelmäßig dort zu Gast, 1926 schrieb
sie in der Neuen Freie Presse: „Zwischen meiner pädagogischen Methode und der Wiener
Schulreform besteht eine so innige geistige Verwandtschaft, dass es für mich einen beson-
deren Reiz hat, die Analogien und Verschiedenheiten beider Systeme immer wieder zu
prüfen und zu untersuchen. Beide Methoden streben auf ähnlichen Wegen dem gleichen
Ziele zu: der Befreiung des Kindes.“242 In Wien hatte Lili Roubiczek der Montessori-
Pädagogik mit ihrer 1921/1922 eingerichteten Montessori-Schule in der Troststraße im
10. Bezirk den Weg bereitet.243 Im Herbst 1930 eröffnete das „Haus der Kinder“ am
Rudolfsplatz 2, das nach Plänen von Franz Schuster in Zusammenarbeit mit Montessori-
Pädagoginnen entstanden war.244
Auch Eugenie Schwarzwald richtete an ihren der Reformpädagogik verpflichteten
„Schwarzwaldschen Schulanstalten“ 1927 einen Kindergarten ein, der sich an der Mon-
tessori-Pädagogik orientierte.245 Dicker und Singer standen ihrem Kreis nahe. So belegte
Dicker 1918 das dortige von Schönberg geleitete Kompositionsseminar und Franz Sin-
gers Sohn Michael Peter besuchte die fortschrittliche Schule ab etwa 1927.246 Der wäh-
rend der Studienzeit am Bauhaus geborene Sohn von Franz Singer und Emmy Heim war
möglicherweise auch ein Grund für Singers fortwährend ausgeprägtes Interesse für Kin-
dermöbel und -spiele, wobei dieser tragischerweise bereits mit acht Jahren verstarb. An
die Freundin und Studienkollegin Anny Wottitz berichtet Singer begeistert von seinem
frisch geborenen Nachwuchs: „Aber von ihm zu erzählen ist nicht leicht, denn das kann
man wohl nur erleben aber nicht schreiben. Sein Leben u[nd] alle Äußerungen desselben
sind ja vorläufig wirklich rein physischer Natur u[nd] nie kann ich dir beschreiben, daß,
trotzdem [...], diese Handlungen doch noch irgend etwas enthalten, – eben weil sie doch
‚Leben‘ sind – das unendlich rührend ist u[nd] so sehr als Wunder erscheint, daß man
nichts damit vergleichen möchte und sehr geneigt ist, alles aufzugeben und nichts mehr
zu tun, als diesem Leben zuzusehen. [...] Schon die winzigen Proportionen des Ganzen
240 Baumhoff 2009, S. 244.
241 Glemnitz 2006, S. 223.
242 Montessori 1926, S. 7.
243 Hammerer 1997, S. 44.
244 Hammerer 1997, S. 106; Hammerer 1995, S. 269.
245 Vgl. Neue Freie Presse 1927, S. 16.
246 AGS, Schulzeugnis von Michael Peter Singer, Schuljahr 1927/1928.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482