Page - 422 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
Image of the Page - 422 -
Text of the Page - 422 -
Resümee und
Ausblick422
Allgemeinheit zu verfolgen, letztendlich aber – jedenfalls was das von Dicker und Singer
besuchte Bauhaus unter Gropius angeht – nur das wohlhabende Bürgertum erreichte.
Dass Dickers und Singers Ästhetik in Ausnahmefällen aber auch breitere Schichten
gewinnen konnte, zeigt ihr viel gelobter Montessori-Kindergarten im Vergleich mit dem
wenig zuvor eröffneten, recht nüchtern gestalteten „Haus der Kinder“ von Franz Schus-
ter. Darüber hinaus verdeutlicht die Entwicklung des X-Stuhls aus Sperrholz Mitte der
1930er-Jahre, dass Singer in Zusammenarbeit mit Hans Biel durchaus innovative Möbel-
Modelle entwickelte, die das Potenzial gehabt hätten, günstig in Serie hergestellt zu wer-
den. Im Gegensatz zu seinem Mitarbeiter Bruno Pollak, dessen um 1927 entwickelter
stapelbarer Stahlrohrstuhl in Großbritannien reißenden Absatz fand, erfüllte sich das
Erreichen breiter Bevölkerungsschichten für Singer aber nicht.
Bei der Planung von Gebäuden finden sich sowohl Bezüge zur Kunst als auch Ver-
suche der Standardisierung. Das geometrische Formenvokabular des „Phantasus“-Bau-
spielkastens findet sich selbst bei dem letzten ausgeführten Gebäude, dem Gästehaus
Auersperg-Hériot, wieder, das wie eine dem Konstruktivismus verpflichtete Formkom-
position erscheint.
Darüber hinaus zeigen sich allerdings in der Planung von „wachsenden“ Kleinhaus-
wohnbauten mit Einbaumöbeln Übereinstimmungen mit der am Bauhaus verfolgten
Standardisierung von Wohnhauselementen wie dem „Baukasten im Großen“. In der
verschachtelten Anordnung der einzelnen Raumkuben auf verschiedenen Niveaus, dem
Einsatz von Podesten und dem „Schrankraum“ lassen sich allerdings auch Korrespon-
denzen mit dem Raumplan-Konzept von Adolf Loos erkennen. Im Aufgreifen dieser
vielfältigen Prinzipien, die sich bereits in der Bevorzugung des Kubus für Sitzmöbel ähn-
lich Hoffmann und Moser zeigt, verdeutlicht sich bei Dicker und Singer auch hier die
Vertrautheit mit Wiener Entwürfen.
Beim Gästehaus Auersperg-Hériot kommen zudem auf Corbusier verweisende Mo-
tive wie die Ausgestaltung der Dachterrasse und die Verwendung von Pfeilern und Wen-
deltreppen hinzu, womit Dicker und Singer durchaus eine – wie Achleitner es formuliert
– „künstlerische Ungebundenheit“ attestiert werden kann.
In Bezug auf die im Titel aufgeworfene Frage „Bauhaus in Wien?“ ist zu konstatie-
ren, dass bei Dicker und Singer, angefangen bei der zeichnerischen Darstellung mithilfe
isometrischer Axonometrien über die Multifunktionalität der Möbel und Raumgestal-
tungen, die Typisierungstendenzen für Möbel und Hausbau, die Verwendung von geo-
metrischen Formen und Materialien wie Stahlrohr und Sperrholz sowie der Farbgestal-
tung, die Bezüge zum Bauhaus nachweisbar sind und ihre Arbeiten somit ein singuläres
Moment im Wien der 1920/1930er-Jahre darstellen. Gleichwohl ist ihr Werk Ergebnis
einer kontinuierlichen Entwicklung, für die auch das Wiener Umfeld maßgeblich war.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482