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zu verknüpfen993. Hinweise auf die Anwesenheit
von Kindern fehlen im Fundmaterial, was allerdings
keinen Grund darstellt, sie grundsätzlich auszu-
schließen.
Die unmittelbare Nähe oder Kombination von
Arbeits- und Wohnbereichen legt nahe, dass der
für den Aufenthalt in der Insula XLI in Frage kom-
mende Personenkreis hier nicht nur arbeitete, son-
dern auch lebte. Die architektonisch in sich abge-
schlossen wirkenden Baukörper der einzelnen
Häuser könnten ein Hinweis dafür sein, dass hier,
der Größe der jeweiligen Häuser entsprechend,
kleinere Familien getrennt voneinander wohnten
(und arbeiteten). Nachbarschaft und Lage der ein-
zelnen Häuser der Insula XLI zueinander ermöglich-
ten andererseits Interaktionen ihrer Bewohner, z. B.
im Rahmen gemeinsamer handwerklicher Tätigkei-
ten994 oder der gemeinsamen Nutzung der Freiflä-
chen zwischen den Bauten, sei es zur Entsorgung
von Abfällen, Haltung von Kleinvieh oder Kultivie-
rung von Nutzpflanzen etc.
Wenn wir davon ausgehen, dass Arbeits- und
Wohnräume identisch und benachbart sind, ist mit
einer gewissen Beeinträchtigung der Lebensqualität
zu rechnen. An möglichen negativen Begleiterschei-
nungen der Handwerkstätigkeiten lassen sich etwa
die Befeuerung von Öfen für den Buntmetallguss
oder die mögliche Reinigung von Schlachtabfällen
zur Weiterverarbeitung im Rahmen der Herstel-
lung von Beinartefakten anführen. Im Zusammen-
hang mit den genannten Aktivitäten wäre zu über-
legen, inwiefern eine gewisse Gesundheitsgefahr
sowohl für die unmittelbar den Risiken ausgesetzten
Handwerker als auch für die übrigen Bewohner der
Gebäude gegeben war.
Die Lage der Insula XLI an der westlichen Periphe-
rie, die erwähnte einfache Architektur und das vor-
liegende mengenmäßig insgesamt bescheiden bis
gewöhnlich wirkende Spektrum an Importwaren
vermitteln den Eindruck, dass der soziale Status
der Bewohner der Insula XLI eher der (peregrinen
[?]) Unter- oder Mittelschicht des Munizipiums zuzu-
rechnen sein dürfte. Von der naheliegenden Deu-
tung der vorliegenden post cocturam auf Gefäßke-
ramik angebrachten Graffiti als Besitzerinschriften
ausgehend, lassen sich gewisse Schlüsse auf die
›Schriftlichkeit‹ der Besitzer, d. h. der Bewohner der
Insula XLI, ableiten. Wir dürfen deshalb vielleicht
mit einem Grad an Schriftvermögen rechnen, der
der Organisation kleinerer bis mittlerer Gewerbe
in einer Provinzstadt während der Römerzeit ent-
spricht. Neben Ritzungen, die durch die Verwen-
dung von Buchstaben konkret als Schriftzeugnisse
zu beurteilen sind, liegt mit dem Deckelfragment
Kat. 201 auch ein Graffito vor, das wohl als aliterate
993 Diskussion: Vgl. Kap. 10. 13.
994 Diskussion: Vgl. Kap. 13. Markierung zu bewerten ist. Dieses Indiz legt nahe,
für den Personenkreis der Insula XLI eine gewisse
Nuancierung oder ein Ungleichgewicht des Schrift-
vermögens anzunehmen.
Vielleicht dürfen wir davon ausgehen, dass sich
auch die ›Krisendynamik‹ der Zeit995 in gewisser
Weise allgemein auf die Wirtschaftslage in Fla-
via Solva-Wagna und damit auch auf die kleine
Gewerbe betreibenden Personen (vielleicht Famili-
enbetriebe [?]) am westlichen Stadtrand auswirkte.
Da während der mittleren Kaiserzeit auch in ande-
ren Siedlungsbereichen in Flavia Solva-Wagna
mit Buntmetallgießerei und Beinverarbeitung zu
rechnen ist (vgl. Kap. 13), könnte sich die Gewer-
betätigkeit in der Insula XLI auch auf die nähere
Umgebung, d. h. den Westteil des Munizipiums,
konzentriert haben.
Die beschriebenen, eher bescheidenen Einkom-
mensmöglichkeiten könnten hinsichtlich des ›Haus-
haltsbudgets‹ bis zu einem gewissen Grad durch
die eigene Versorgung mit Nahrungsmitteln (Kulti-
vierung von Hülsenfrüchten, Haltung von Kleinvieh)
kompensiert worden sein996. Die Überlegungen ver-
deutlichen, dass bezüglich des Handwerkermilieus
in einer südostnorischen Stadt nicht simplifiziert von
einer ›Mittelschicht‹ auszugehen ist, die ihre Bedürf-
nisse ausschließlich vom Verkauf der im Rahmen
einer spezialisierten Handwerkstätigkeit gefertigten
Produkte abdecken konnte oder wollte.
Hinsichtlich der Ernährung dürfen wir vielleicht eine
durchaus kohlenhydrat- und proteinreichen Kost
postulieren, die vielleicht der körperlichen Bean-
spruchung handwerklicher Tätigkeit entsprach. Die
Ernährungsweise beruhte offenbar vor allem auf
regionalen Produkten und umfasste sowohl Nah-
rungsmittel pflanzlicher als auch tierischer Herkunft
(vgl. Kap. 11.2.1; 11.2.3). Diese Bestandteile des
Speiseplans wurden, soweit im vorliegenden Befund
nachweisbar, kaum durch importierte Waren, z. B.
Olivenöl, ergänzt (vgl. Kap. 11.1.2.5.1). In diesem
Zusammenhang fällt auf, dass mit Reibschüsseln
und einer pompejanisch-roten Platte sowie Gefä-
ßen aus Terra Sigillata durchaus spezifisches Koch-
und Tafelgeschirr im Fundmaterial vertreten ist, das
›römisch-mediterran‹ beeinflusste Nahrungsmittel-
zubereitung und -konsumation erlaubt. Vielleicht
dürfen wir von dieser Evidenz darauf schließen,
dass zwar vorwiegend lokale Nahrungsmittel her-
angezogen, diese jedoch auch an ›römisch-mediter-
rane Kochgewohnheiten‹ angelehnt zubereitet und
konsumiert wurden.
Falls die Annahmen einer lokalen Kultivierung von
Hülsenfrüchten zutrifft, dürfen wir vielleicht auch
den damit verbundenen Schädlingsbefall pflanz-
licher Nahrungsmittel (vgl. Kap. 11.2.3) auf loka-
995 Diskussion: Vgl. Kap. 2.
996 Diskussion: Vgl. Kap. 11.2.1; 11.2.3.
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Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Title
- Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Author
- Christoph Hinker
- Publisher
- Österreichisches Archäologisches Institut
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-900305-70-3
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 344
- Keywords
- Flavia Solva, materielle Kultur, Artefakt (Archäologie), Brom, Glimmergruppe, Insula, Magerung, Thüringische Drehscheibenkeramik
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- Einleitung 9
- 1 Lage 11
- 2 Historischer Kontext 15
- 3 Forschungsgeschichte 23
- 4 Forschungsmeinungen 27
- 5 Quellenkritik 31
- 6 Terminologie 35
- 7 Taphonomie 37
- 8 Exkurs: Korrespondierende Befunde im Munizipium Flavia Solva? 49
- 9 Die Architektur der Insula XLI (Haus I–VI) 51
- 10 Definition von Aktivitätszonen 57
- 10.1 Exkurs: Grube G21 66
- 10.2 Exkurs: Grube G32 72
- 11 Fundauswertung 77
- 12 Chronologie 153
- 13 Technologie und Werkstätten 157
- 14 Der Brandhorizont der Insula XLI im urbanen kultur-geschichtlichen Kontext von Flavia Solva 167
- 15 Brandzerstörungen aus der Zeit der Markomannenkriege in Noricum, Pannonien und Rätien 171
- 16 Diskussion: Ergebnisse und ihr Verhältnis zum historischen Kontext 179
- 16.1 Holzarchitektur 180
- 16.2 Schadensfeuer 180
- 16.3 Pompeji-Prämisse 180
- 16.4 Militaria 181
- 16.5 Menschliche Skelettreste 182
- 16.6 Übrige Funde, speziell Metallfunde 183
- 16.7 Bebauungsmuster der Insula XLI nach Periode II/II+ 184
- 16.8 Forschungsstand zu Flavia Solva 186
- 16.9 Die südostnorische Siedlungslandschaft und das Szenario eines Germaneneinfalls 186
- 16.10 Tradierung von Forschungsmeinungen versus kritischer Prüfung 187
- 16.11 Fragenkatalog und Synthese 187
- 17 Ausblick: Zur Frage der Historizität in der Provinzial- römischen Archäologie 189
- 18 Resümee 195
- 19 Katalog 199
- 20 Tafeln 263
- Tafeln 1 – 43 265
- Fototafeln 1–9 308
- Typentafel mit Tabellen 20 und 21 317
- 21 Anhang 321