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Möglichkeiten und Grenzen der historischen Inter-
pretation provinzialrömischer Befunde und vice
versa inwiefern provinzialrömische Befunde zu alt-
historischen Fragestellungen konstruktive Beiträge
zu leisten vermögen, sollen in diesem Rahmen mit
der vorliegenden Fallstudie exemplifiziert und dis-
kutiert werden1140. Diese Diskussion soll berück-
sichtigen, wie die verschiedenen, aber thematisch
demselben Rahmen angehörenden schriftlichen
und nichtschriftlichen Quellen und differenzierten
Perspektiven unterschiedlicher Fachrichtungen
der Altertumswissenschaften auf diese Quellen
zusammengeführt werden können, ohne dabei auf
eine Illustration des Spannungsverhältnisses zwi-
schen Archäologie und Geschichtswissenschaft
beschränkt zu bleiben.
Die Ausgangslage hierzu ist innerhalb der Fachrich-
tung Provinzialrömische Archäologie als eher dürftig
oder sogar inexistent zu beurteilen, worauf zuletzt
M. K. H. Eggert anlässlich eines Überblicks über
die archäologischen Fächer hingewiesen hat1141.
Schriftliche Quellen, die die Ereignisgeschichte
illustrieren, werden zwar im Zusammenhang mit
der Interpretation provinzialrömischer Befunde her-
angezogen, auf die Art und Weise, wie diese Syn-
these erfolgt, gleichsam die Methoden der Inter-
pretation und ihre Problematiken, wurde bislang für
die Provinzialrömische Archäologie m. W. kaum je
detailliert eingegangen1142. Methodische Richtlinien
zum Umgang mit dieser Thematik liegen nicht vor,
was insofern ungewöhnlich erscheint, als dass die
Verknüpfung provinzialrömischer Befunde mit der
historischen Überlieferung seit der Genese des
Faches ein wiederkehrendes und zentrales Thema
bildet. Für die Klassische Archäologie, die ebenso
wie die Provinzialrömische Archäologie über eine
schriftliche Parallelüberlieferung verfügt, hat U. Sinn
gefordert, im Zusammenhang mit archäologischen
und schriftlichen Quellen das Hauptaugenmerk der
Forschung von der Suche nach Kongruenzen ver-
stärkt auf die »Herausarbeitung von Widersprüchen
und Diskrepanzen« zu legen1143, eine Auffassung,
der zuletzt auch M. K. H. Eggert gefolgt ist1144.
Die Provinzialrömische Archäologie beruht sowohl
auf schriftlichen als auch auf nichtschriftlichen Quel-
len. Beide Quellengattungen werden gleichermaßen
1140 In diesem Zusammenhang sei auf die unter der Überschrift
»Was ist Geschichtsschreibung in archäologischen Fä-
chern?« subsumierten, äußerst lesenswerten, konzisen Be-
merkungen M. Fitzenreiters aus ägyptologischer Perspektive
verwiesen: Fitzenreiter 2011, 262 – 264.
1141 Eggert 2006, 148. 201 f.; Ansätze: Bechert 1999, 7 – 9. 39 – 52;
Bechert 2003, 19 – 21. 27 – 36; Fellmann 1997, 656 – 658.
1142 Unter besonderer Berücksichtigung der Archäologie des
Mittelalters und der Neuzeit: Wenskus 1979, 637 – 657; Falk
2005. Frommer 2007. Für die Klassische Archäologie: Sinn
2003, 39 – 61.
1143 Sinn 2004, 49.
1144 Eggert 2011, 40. zur Erörterung von Fragestellungen der Provinzial-
römischen Archäologie herangezogen. Die ange-
strebte Kombination schriftlicher und nichtschrift-
licher Quellen findet jedoch häufig de facto nicht
statt, sondern stagniert auf der Ebene einer paral-
lelen Betrachtung beider Quellengattungen. Deut-
lich wird, dass die Grenzen, wie und ab welchen
Voraussetzungen eine Kombination vorzunehmen
ist1145, unklar oder individuell verschieden sind. Das
Verhältnis von Archäologie, d. h. nichtschriftlicher
Quellen, zur auf Schriftquellen beruhenden Historie
zu beleuchten, wäre ein wichtiger Ansatzpunkt zur
Grundlagenreflexion innerhalb der archäologischen
Fächer1146, auf den, wie bereits erwähnt, allerdings
bislang von der Forschung kaum näher eingegan-
gen wurde.
Eine Problematik liegt wohl darin, dass zur Kombi-
nation der Quellengattungen die Aufbereitung der
schriftlich und nichtschriftlich vorliegenden Fakten
lediglich Voraussetzung, aber noch kein Ergebnis
ist. Die Kombination der beiden Quellengattungen
ist, sofern sie einander nicht decken, gleichzeitig
Interpretation und muss zwangsläufig den Bereich
der Fakten verlassen. Dass dieser Weg beson-
ders in der Archäologie mit ihren vermeintlich als
Fakten angesehenen Befunden und Funden nur
ungern beschritten wird1147, zeigen beispielsweise
auch meine bescheidenen strukturgeschichtlichen
Versuche am jeweiligen Ende der Kapitel 2.1 »Die
Markomannenkriege und der germanische Einfall
in Italien« und 2.2 »Die antoninische Pest« sowie
im Kapitel 14 »Der Brandhorizont der Insula XLI
im urbanen kulturgeschichtlichen Kontext von Fla-
via Solva«. Tatsächlich werden in diesem Rahmen
eher Möglichkeiten und Versionen einer Strukturge-
schichte diskutiert, als diese konkret ›zu schreiben‹.
M. K. H. Eggert hat aufgezeigt, dass zur Interpre-
tation archäologisch dokumentierter Phänomene in
den Archäologien mit schriftlicher Parallelüberliefe-
rung Konzepte notwendig wären, »die jenseits der
empirischen Überlieferung liegen oder jedenfalls
über sie hinausgehen«1148.
Eine allgemeine Problematik besteht sicher in der
generellen Unterschiedlichkeit schriftlicher und
nichtschriftlicher oder archäologischer Quellen1149
sowie in der Fehleinschätzung des Potenzials der
primären Quellen der jeweiligen Nachbardiszip-
lin1150. Die Gegensätze dieser beiden im Zuge von
Forschungsarbeiten der archäologischen Fächer
mit schriftlicher Parallelüberlieferung zur Erörte-
rung einer Fragestellung herangezogenen Quellen-
1145 Eggert 2006, 219.
1146 Eggert 2006, 220.
1147 Der Begriff ›naiver Realismus‹ mag durchaus auch auf die
Archäologie anzuwenden sein. Vgl. Lorenz 1997, 13 – 15.
1148 Eggert 2006, 208.
1149 Eggert 2005, 46 – 51; Eggert 2011, 25, 39 f.; Veit 2011, 303 f.
1150 Müller-Scheeßel 2011, 132.
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Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Title
- Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Author
- Christoph Hinker
- Publisher
- Österreichisches Archäologisches Institut
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-900305-70-3
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 344
- Keywords
- Flavia Solva, materielle Kultur, Artefakt (Archäologie), Brom, Glimmergruppe, Insula, Magerung, Thüringische Drehscheibenkeramik
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- Einleitung 9
- 1 Lage 11
- 2 Historischer Kontext 15
- 3 Forschungsgeschichte 23
- 4 Forschungsmeinungen 27
- 5 Quellenkritik 31
- 6 Terminologie 35
- 7 Taphonomie 37
- 8 Exkurs: Korrespondierende Befunde im Munizipium Flavia Solva? 49
- 9 Die Architektur der Insula XLI (Haus I–VI) 51
- 10 Definition von Aktivitätszonen 57
- 10.1 Exkurs: Grube G21 66
- 10.2 Exkurs: Grube G32 72
- 11 Fundauswertung 77
- 12 Chronologie 153
- 13 Technologie und Werkstätten 157
- 14 Der Brandhorizont der Insula XLI im urbanen kultur-geschichtlichen Kontext von Flavia Solva 167
- 15 Brandzerstörungen aus der Zeit der Markomannenkriege in Noricum, Pannonien und Rätien 171
- 16 Diskussion: Ergebnisse und ihr Verhältnis zum historischen Kontext 179
- 16.1 Holzarchitektur 180
- 16.2 Schadensfeuer 180
- 16.3 Pompeji-Prämisse 180
- 16.4 Militaria 181
- 16.5 Menschliche Skelettreste 182
- 16.6 Übrige Funde, speziell Metallfunde 183
- 16.7 Bebauungsmuster der Insula XLI nach Periode II/II+ 184
- 16.8 Forschungsstand zu Flavia Solva 186
- 16.9 Die südostnorische Siedlungslandschaft und das Szenario eines Germaneneinfalls 186
- 16.10 Tradierung von Forschungsmeinungen versus kritischer Prüfung 187
- 16.11 Fragenkatalog und Synthese 187
- 17 Ausblick: Zur Frage der Historizität in der Provinzial- römischen Archäologie 189
- 18 Resümee 195
- 19 Katalog 199
- 20 Tafeln 263
- Tafeln 1 – 43 265
- Fototafeln 1–9 308
- Typentafel mit Tabellen 20 und 21 317
- 21 Anhang 321