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LOTHAR
HÖBELT32
In der nächsten Legislaturperiode (1885–1891) ging das Engagement
Belcredis, inzwischen siebzig Jahre alt, deutlich zurück. Er hatte 1885 mit
einem Antreten in den mährischen Landgemeinden kokettiert, zwar nicht
kandidiert, sich aber kandidieren lassen – und gegen seinen alten Rivalen
aus dem Jahre 1874, Wolfgang Kusý, beinahe, aber doch nur beinahe, ge-
wonnen. Stattdessen wurde dem adeligen „Sozialisten“ ein Mandat der
böhmischen Fideikommissbesitzer angeboten, des wohl elitärsten Wahlkrei-
ses der Monarchie. 1888 wurde er zum Obmann des Gewerbe-Ausschusses
gewählt: Doch die zweite Phase der österreichischen Sozialgesetzgebung,
mit der Schaffung (vielleicht besser: der Zentralisierung) der Kranken- und
Unfallversicherung, die nicht zuletzt die ländlichen Gemeinden entlasten
sollte, die bisher für heimatzuständige Invalide aufzukommen hatten, auch
wenn sie ihren Lebensunterhalt bis dahin in den Städten verdient hatten,
findet in seinem Tagebuch kaum mehr ihren Niederschlag.90
Taaffe steuerte auch mit einer gefestigten Mehrheit im Reichsrat kei-
nen eindeutig konservativen Kurs, sondern blieb seiner Politik des „Mi-
schmasch“ treu, hielt – wie Belcredi es rückblickend formulierte – bloß
den Liberalen die Plätze warm und ließ wertvolle Zeit verstreichen.91 Die
Jahre zwischen 1885 und 1888 waren darüber hinaus bestimmt von einem
neuerlichen Wetterleuchten im Orient. Eine größere kriegerische Ausei-
nandersetzung, die alle europäischen Mächte erfassen könnte, war nicht
unbedingt auszuschließen. Doch diese außenpolitischen Gefahrenmomente
führten bei Belcredi keineswegs zu patriotischen Aufwallungen, sondern
zu für einen alten Offizier bemerkenswerten Ausfällen gegen das „ewige
Soldatenspielen“ des Kaisers, die allgemeine Wehrpflicht und den Milita-
rismus, der „uns beherrscht und ruiniert“.92 Die Stellung Österreich-Un-
garns im Dreibund erinnerte ihn an „den Gekreuzigten zwischen den bei-
den Schächern“.93
Belcredi hatte sich stets beklagt, dass der Mangel eines Zentrums in Mäh-
ren seine Wirksamkeit einschränkte. Brünn sei eben keine wirkliche Haupt-
stadt, wie er sich immer wieder beklagte; dafür sei das „verjudete Wien“ zu
nahe.94 Doch auch für den alternden Belcredi selbst rückten zwei eng mitei-
90 Tb. 9.11.1888; vgl. Margarethe grandner, Conservative Social Politics in Austria, 1880–
1890, in: Austrian History Yearbook 27, 1996, 77–107.
91 Tb. 4.6.1887, 13.1.1894.
92 Tb. 16.9.1886, 10.12.1886, 15.9.1891.
93 Tb. 22.7.1888, 8.1.1892.
94 Tb. 11.4. u. 18.6.1887; vgl. Lothar höBelt, Brünn in der deutschen Politik Altösterreichs, in:
Lukáš Fasora – Jiří Hanuš – Jiří Malíř (Hg.), Brno Vídni, Vídeň Brnu. Zemské metropole
a centrum říše v 19. století. Sborník příspěvků z mezinárodní konference konané ve dnech
22.–23. listopadu 2007 v Brně/Brünn–Wien, Wien–Brünn. Landesmetropolen und Zentrum
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Title
- Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Authors
- Lothar Höbelt
- Johannes Kalwoda
- Editor
- Jiří Malíř
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20067-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 1144
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Vorwort und Editionsrichtlinien 7
- Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 11
- Lothar Höbelt: Graf Egbert Belcredi – der „echte“ Konservative 15
- Jiří Malíř: Antonín Okáč – Leben und Werk des Herausgebers der
- Tagebücher und Korrespondenz Egbert Belcredis 39
- Bildtafeln 65
- Tagebuchaufzeichnungen 73
- 1850 75
- 1851 91
- 1852 104
- 1853 126
- 1854 145
- 1855 156
- 1856 170
- 1857 182
- 1858 189
- 1859 193
- 1860 195
- 1862 199
- 1863 212
- 1864 223
- 1865 255
- 1866 262
- 1867 307
- 1868 339
- 1869 353
- 1870 355
- 1871 356
- 1872 367
- 1873 375
- 1874 384
- 1875 400
- 1876 449
- 1877 497
- 1878 504
- 1879 530
- 1880 565
- 1881 589
- 1882 611
- 1883 653
- 1884 700
- 1885 728
- 1886 770
- 1887 793
- 1888 838
- 1889 881
- 1890 905
- 1891 945
- 1892 979
- 1893 1016
- 1894 1042
- Anhang 1059
- Anhang 1: Promemoria Graf Egbert Belcredis: Ideen zu einer
- Reform des Adels 1059
- Anhang 2: Promemoria Egbert Belcredis [zum Vaterland] 1067
- Anhang 3: Promemoria Graf Egbert Belcredis für den Brünner
- Bischof Franz Bauer 1074
- Wiederkehrende Wörter und Wendungen 1079
- Tschechisch 1079
- Lateinisch 1081
- Ortsnamenkonkordanz 1082
- Deutsch – Tschechisch 1082
- Tschechisch – Deutsch 1086
- Literatur und Nachschlagewerke 1091
- Namensregister (Auswahl) 1115