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geeigneten Mann erachtete.192 Was Lothar »außer Verständnis und Liebe« für
Grillparzer dazu mitbrachte, waren »Erfahrungen als Theaterkritiker und solche
als Romancier, die, wenn man Heinrich Manns geistreiches Wort: ›Roman-
schreiben heißt Regieführen‹, gelten lassen will, auch keine schlechte Vorschule
waren« 193. Denn immerhin betrat Lothar die Burgtheaterbühne als Regisseur
»ohne alle Routine, ja, ohne vorausgegangene Berührung mit dem praktischen
Theater« 194. Auf die Frage, wie er Burgtheaterregisseur wurde und warum er sich
gerade fĂĽr eine Grillparzer-
Inszenierung entschieden habe, antwortete Lothar
in einem Interview:
Was insbesondere Grillparzer betrifft, so bin ich für ihn, seit ich mich […] zum ersten
mal
als Kritiker mit dem Theater auseinanderzusetzen hatte, immer wieder leidenschaft
lich
eingetreten. […] Ich hatte näm
lich den Eindruck, daĂź das gesprochene und geschrie-
bene Wort nicht mehr ausreiche und nun die Tat folgen müsse. […] Die Grillparzer-
AuffĂĽhrungen der Direk
tion Wildgans’ […] vermochten die Durchschlagskraft des
Grillparzerschen Geistes und das Feuer seines dramatischen Atems […] nicht hinläng-
lich zu bekunden. Als daher Direktor Röbbeling sein Amt antrat und mir die Freund-
lichkeit erwies, sich mit mir ĂĽber die Spielplanbildung zu besprechen[,] schlug ich ihm
die Erneuerung jenes Werkes vor, das bisher nicht nur als völlig bühnenunwirksam,
sondern […] als »unaufführbar« gegolten hatte, des »Bruderzwistes in Habsburg«.195
Im September 1932 begann Lothar mit den Proben, Ende Oktober leitete die
Premierenvorstellung des Bruderzwists in Habsburg den von Röbbeling geplan-
ten Festspielzyklus »Stimmen der Völker im Drama« ein. Lothar hatte 1927, als
das Deutsche Volkstheater das Trauerspiel auf die BĂĽhne brachte, eine Kritik
des Theaterabends verfasst, in der er sein Verständnis dieses Grillparzer’schen
Alterswerks formulierte:196 Das Drama mĂĽsse fĂĽr die BĂĽhne gekĂĽrzt, das
»Haupt- und Staatsak tionsmäßige« zurückgedrängt und die Figur Rudolfs II. in
den Mittelpunkt gestellt werden. Seine Neubearbeitung und Neuinszenierung
192 Eine Ausnahme stellt der Brünner Tagesbote dar, der – allerdings Jahre später – mutmaßt,
Lothars »feingeschliffene, geistreiche Referate und Feuilletons« hätten Direktor Röbbeling
dazu bewegt, ihm »versuchsweise die Regie eines klas sischen Stückes zu übertragen« (Brünner
Tagesbote, 15. 8. 1935, S. 6).
193 Edwin Rollett: Ernst Lothar. In: Maske und Kothurn, 8 (1962), S. 149 – 152, hier S. 149.
194 Neues Wiener Journal, 1. 12. 1935, S. 30.
195 Ebd.
196 Vgl. EL: Tragödie der Einsamkeit. »Ein Bruderzwist in Habsburg.« – Deutsches Volkstheater.
In: Neue Freie Presse, 27. 1. 1927, S. 1 ff.
»Des Burgtheaters Sonntagsregisseur« 91
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ernst Lothar
- Subtitle
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Author
- Dagmar HeiĂźler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 484
- Keywords
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Category
- Biographien
Table of contents
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478