Page - 122 - in Ernst Lothar - Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
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Ginzkey, Hofmannsthal, Lenau, Mell, Rilke, Weinheber, Wildgans, Werfel und
Zernatto vor. Nach dem von ihm zusammengestellten Programm »brachte der
Direktor selbst, die Darbietung abschlieĂźend, auf ganz unpathetische Art, doch
gerade deshalb nur um so eindring licher, Verse von Grillparzer und Saar voll
erstaun licher Aktualität zu Gehör: Sie wirkten, als wären sie mit Hinblick auf
den heutigen Tag geschrieben.« 130 Lothar hatte von Ferdinand von Saar die Wie-
ner Elegien (VI. und XIII.) und Lebensregel sowie von Grillparzer Abschied von
Gastein, Der deutsche Dichter, Sie sollen ihn nicht haben, den grĂĽnen Donaustrand
und Mein Vaterland ausgewählt. Im Publikum war neben Kanzler Schuschnigg
und Minister Pernter auch Guido Zernatto zu finden, an diesem Vormittag viel-
leicht mehr in seiner Eigenschaft als Dichter denn als Staatssekretär. Einziger
Wermutstropfen der Matinee war laut anwesenden Kritikern die groĂźe Anzahl
an ausgewählten Gedichten, die in einen kleinen zeit
lichen Rahmen gepresst
wurden und daher ihre Wirkung nicht voll entfalten konnten.131
Einen Monat darauf wurden die Gäste der um 20.15 Uhr beginnenden Vor-
stellung aufgefordert, bereits vor 19 Uhr ihre Plätze einzunehmen, da das Theater
in der Josefstadt um 19 Uhr die Rede Schuschniggs aus der auĂźerordent lichen
Bundestagssitzung ĂĽbertrug.132 In der Kanzlerrede nahm Schuschnigg Bezug auf
sein Treffen mit Hitler in Berchtesgaden am 12. Februar und stellte fest, dass
die Situa tion zwischen Ă–sterreich und seinem Nachbarland angespannt sei. Er
betonte, dass seine Regierung es als ihre Pficht erachte, mit allen Kräften »die
unversehrte Freiheit und Unabhängigkeit« Österreichs zu erhalten sowie den
Frieden nach auĂźen und nach innen zu wahren.133 Trotz dieser eindring
lichen
Worte schreibt Lothar ĂĽber die Zeit kurz vor Hitlers Einmarsch in Ă–sterreich:
Ein Zustand der Unartikuliertheit, ein Verstummen, Zurseiteschauen, Nichtswissen
und Nichtswissenwollen, zugleich absurd und gespenstisch, riegelte hĂĽben von drĂĽben
ab, wir machten uns keine Vorstellung davon, was […] vorging, schlimmer noch, wir
wollten uns keine machen. Auf unserem Eiland, wo die Wellen bereits turmhoch gin-
gen, fühlten wir uns noch zu einer Zeit sicher, da die Schweizer Zeitungen unablässig
130 E. R. [d. i. Erwin Rieger]: Morgenfeier im Theater in der Josefstadt. In: Neue Freie Presse,
25. 1. 1938, S. 9.
131 Vgl. Reichspost, 26. 1. 1938, S. 10.
132 Neue Freie Presse, 24. 2. 1938, S. 10. – Der Verband der österreichischen Theaterdirektoren hatte
beschlossen, sämt
liche Vorstellungen um 19 Uhr anzusetzen, damit die Kanzlerrede gehört
werden konnte.
133 Vgl. Neue Freie Presse, 25. 2. 1938, S. 1; JĂĽdische Presse. Organ fĂĽr die Interessen des orthodo-
xen Judentums, 4. 3. 1938, S. 1. 1935 – 1938: Theater in der
Josefstadt122
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ernst Lothar
- Subtitle
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Author
- Dagmar HeiĂźler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 484
- Keywords
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Category
- Biographien
Table of contents
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478