Page - 16 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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16 Neue illustrierte Welt · Einleitung
aus den alten Zeitungsseiten Teile ihres Werkes zu re-
konstruieren. Unter diesen Wiederentdeckungen sind
auch einige frühe Pressefotografinnen, die in einem
bis zur Jahrhundertmitte männlich dominierten Feld
faszinierende Arbeiten vorgelegt haben. Oft sind zu
diesen bisher unbekannten Pionieren nur rudimen-
täre biografische Informationen erhalten, hin und
wieder aber war es möglich, ihre Biografie und beruf-
liche Karriere umfassender zu recherchieren. In den
biografischen Ausführungen am Ende dieses Bandes
erhalten viele bisher unbekannte Fotografinnen und
Fotografen erstmals wieder ein Gesicht.
Berlin, Wien: Austauschbeziehungen
Der Aufbruch der deutschen und österreichischen
Pressefotografie erfolgt um die Jahrhundertwende
etwa zeitgleich und mit ähnlichem Elan wie in den
angelsächsischen Ländern oder in Frankreich. Das
heißt freilich nicht, dass in allen Ländern die Ent-
wicklung des Fotojournalismus eine vollkommen
parallele Entwicklung genommen hat. In den an-
gelsächsischen Ländern, aber auch in Frankreich
erfolgt die Umstellung auf die Fotoberichterstattung
schneller und entschiedener, die grafische Gestal-
tung vieler illustrierter Wochenzeitungen wird nach
der Jahrhundertwende rascher modernisiert als in
Deutschland und v. a. in Österreich. Hier stehen die
großen Illustrierten teilweise noch sehr lange in der
konservativen grafischen Tradition der illustrierten
Familienzeitungen des 19. Jahrhunderts.
Die wichtigsten Zentren der Bildpresse im deutsch-
sprachigen Raum sind Berlin und Wien. Während in
der Zwischenkriegszeit die Berliner Presse mit der
Berliner Illustrirten Zeitung (Abb. 5) an der Spitze zum
Boom ansetzt, verläuft der Aufbruch der österreichi-
schen Zeitungslandschaft nach 1918 gedämpfter. Die
großen, etablierten Wochenblätter setzen mehr auf
Tradition und Kontinuität als auf Innovation. Anre-
gungen und Innovationen werden in den 1920er und
frühen 1930er Jahren eher in den kleineren Kultur-
und Gesellschaftsmagazinen, etwa der Bühne oder
dem Wiener Magazin, aufgegriffen.
Eine Reihe von jungen, innovativen österreichi-
schen (und ungarischen) Fotografen, Fotoagenten und Geschäftsleuten sucht in den 1920er Jahren ihr Glück
in der aufstrebenden Zeitungsstadt Berlin. Dort tref-
fen sie auf ein kulturell experimentierfreudiges Am-
biente und auf finanzkräftige Pressehäuser (Ullstein,
Mosse, Scherl etc.), die Journalisten und Fotografen
weit besser bezahlen, als dies die österreichischen
und ungarischen Zeitungen vermögen. Es gibt aller-
dings auch einige Fotografen und Agenten, die den
umgekehrten Weg einschlagen und ihren Arbeitsho-
rizont von Berlin nach Wien ausdehnen, weil sie in
der österreichischen Hauptstadt – zu Recht – weniger
Konkurrenz vermuteten.
Auch wenn in diesem Buch die Pressefotografie in
Österreich im Zentrum steht, lässt sich ihre Entwick-
lung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht
als ein in sich abgeschlossenes, national begrenztes
Projekt charakterisieren. Die erstaunlich frühe In-
ternationalisierung des Fotomarktes bringt es mit
sich, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein reger
Austausch von Bildern über regionale und Landes-
grenzen hinweg erfolgt. Vor allem die größeren Fo-
toagenturen beliefern internationale Märkte.16 Auch
viele der Fotografen sind überaus mobil. Zwischen
Wien, Prag, Budapest und Berlin lässt sich über Jahre
hinweg ein intensiver Pendelverkehr nachweisen.17
Die intensive Austauschbewegung zwischen Wien
und Berlin erfährt 1933 mit der Machtübernahme
der Nationalsozialisten in Deutschland einen star-
ken Dämpfer. Zwar machen linientreue und politisch
angepasste österreichische Fotografen weiterhin in
Deutschland Karriere.18 Andere sind auch weiterhin
mit ihren Bildern in der deutschen Presse präsent.
Aber jüdische (ebenso wie viele liberale und linke)
Fotografen können nun nicht mehr in Deutschland
publizieren. Die nationalsozialistische Pressepolitik
sorgt dafür, dass in deutschen Zeitungshäusern jüdi-
sche und politisch missliebige Fotografen, Fotoredak-
teure und Fotoagenten aus ihren Positionen entfernt
werden. Einige von ihnen emigrieren zunächst nach
Wien, wo sie beruflich wieder Fuß zu fassen versu-
chen.19 Die Diktatur des „Ständestaats“, die 1934 in
Österreich entsteht, verhindert aber, dass das Land
zu einem Anziehungspunkt für einen innovativen
Fotojournalismus wird. Nach dem „Anschluss“ Öster-
reichs an das nationalsozialistische Deutschland im
Abb. 5 „Ein Augenblick des
Glücks. Zufalls-Aufnahme von
einem Sonntags-Tanzboden“.
Berliner Illustirte Zeitung, 6.
No-
vember
1932, Titelseite. Foto:
Yva (Else Ernestine Neuländer).
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang