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54 Fotos statt Zeichnungen · Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit
hundertwende entstehen daher neue Berufsbilder:
der Pressefotograf, der sich auf die illustrierte Be-
richterstattung spezialisiert, der Fotoagent, der die
Fotos verkauft und die Belieferung der Redaktionen
mit Bildern übernimmt, der Chemigraf, der die Fotos
für den Druck aufbereitet, der Redakteur bzw. Foto-
redakteur, der für die Auswahl, Betextung und An-
ordnung der Bilder in der Zeitung verantwortlich ist.9
Die Herausbildung der fotografischen Öffentlich-
keit hat weitreichende Folgen. Nicht nur die Anzahl,
sondern auch der Status der Fotografien ändert sich.
Bis in die 1890er Jahre gilt die Fotografie als „minde-
res“ Medium, das sich gegenüber den künstlerisch
geadelten Skizzen, Zeichnungen und Holzstichen
nicht durchsetzen kann. Erst allmählich eignen sich
die in Zeitungen gedruckten Fotografien jene Attri-
bute an, die bisher der Zeichnung vorbehalten wa-
ren: Lebendigkeit, Dramatik, Bewegung, Nähe zum
Geschehen, Fokussierung und erzählerische Zuspit-
zung (Abb. 4). Frühe Pressefotografien erscheinen im
Druck statisch, konturlos und distanziert. Die Leben-
digkeit der Zeichnung geht ihnen ab. Der technische
Aufwand ihrer Herstellung ist in den ersten Jahren
noch erheblich: Fotografiert wird mit schweren, un-
handlichen Kameras, die in der Regel auf einem Sta-
tiv befestigt werden. Schnappschüsse sind auf diese
Weise unmöglich. Nur zögernd gehen die Fotografen
hinaus ins Freie, immer noch entstehen viele ihrer
Aufnahmen – vor allem Porträts – im Atelier. Am frü-
hesten kommt der Fotodruck im Bereich der Porträts
zum Einsatz. Im Interessanten Blatt erscheinen die
ersten Fotoporträts ab Ende der 1880er Jahre. In an-
deren Sparten der Berichterstattung dauert es noch einige Jahre länger, bis die Fotografie sich als Leitme-
dium durchsetzt.
Die auflagenstarke Bildpresse, in deren Fahr-
wasser die fotografische Öffentlichkeit entsteht, ist
keineswegs homogen. Sie setzt sich vielmehr aus
differenzierten Teilöffentlichkeiten zusammen. Die
einzelnen Zeitungen adressieren ganz unterschiedli-
che Leserschichten, regionale Gruppen, ideologische
Milieus und parteipolitische Lager. Die Hauptklien-
tel der illustrierten Presse – etwa des Interessanten
Blattes und der Wiener Bilder – besteht aus dem ge-
hobenen, mittleren und Kleinbürgertum, kaum aus
der Arbeiterschaft.10 Die städtischen Leser sind ge-
genüber den ländlichen bei Weitem in der Überzahl.
Das heißt: Die österreichischen Illustrierten sind vor
allem in der Metropole Wien und in den größeren
Bezirksstädten verbreitet, aber kaum am Land. Der
politische Kurs der illustrierten Presse ist liberal bis
konservativ, offene Parteibindungen werden aber
meist gemieden. Nur die Österreichische Illustrierte
Zeitung steht vor dem Ersten Weltkrieg in auffälliger
Nähe zur Christlichsozialen Partei Karl Luegers. Lin-
ke Illustrierte gibt es bis in die späten 1920er Jahre,
als mit dem Kuckuck die erste sozialdemokratische
Bilderzeitung entsteht, keine.
Ein Sonderfall ist die illustrierte Sex-and-Crime-
Presse. Gemeint sind damit etwa Skandal-, Erotik-,
Revolver-, Witz- und sogenannte Gerichtszeitschrif-
ten, die um 1900 ebenfalls gewaltige Auflagenzu-
wächse verzeichnen. Auch bei diesen Blättern nimmt
die fotografische gegenüber der zeichnerischen Illus-
tration nach 1900 deutlich zu. Prototyp dieser Rich-
tung ist der Criminal-Reporter, der 1891 in Hamburg
gegründet wird und auch in Österreich hohe Auflagen
erreicht.11 Daneben gibt es ein weitverzweigtes Spek-
trum oft kurzlebiger (und immer wieder zensierter
und verbotener) Zeitschriften. Ein Teil von ihnen wird
in Deutschland hergestellt, andere werden in Öster-
reich produziert.12 Die Hauptleserschaft dieser billi-
gen, mit Zeichnungen und Fotos illustrierten Blätter
ist das Kleinbürgertum und teilweise auch die Arbei-
terschaft. Ihre Themen sind skandalträchtige Krimi-
nalfälle, Erotik, Gewalt und andere Sensationen, die
in Bild und Text ausgebreitet werden. Gelegentlich
ist der Übergang zwischen der Skandal- bzw. Revol-
Abb. 4 Autounfall durch
Bremsversagen am
Exelberg
im Wienerwald, nördlich von
Wien, Zeichnung. Wiener Bilder,
28.
Mai 1899, S.
4.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang