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95Neue
Helden
kameras und meist mit Stativ arbeiten. Es ist schwie-
rig für sie, das fliegende Gefährt so auf die Platte zu
bannen, dass nicht ein verwischter kleiner Fleck am
Himmel zu sehen ist, sondern ein eindrucksvolles,
brauchbares Bild entsteht. Eingebaute Zooms ken-
nen die Apparate zu dieser Zeit noch nicht. Dennoch
lassen sich die Fotografen das große Ereignis nicht
entgehen. Alle wichtigen Wiener Pressefotografen ha-
ben ihre Kamera am Rande des Flugfeldes aufgestellt.
Unter ihnen sind Heinrich Schuhmann sen., Charles
Scolik jun. und Carl Seebald, der seine und fremde
Bilder über die wenige Monate zuvor gegründete
Fotoagentur „Illustrations-Zentrale“ vertreibt. Eben-
so anwesend sind Fotografen der Fotohandelsfirma
R. Lechner (Wilh. Müller). Ihre Bilder erscheinen in
den kommenden Wochen in der illustrierten Presse.
Trotz der massiven Präsenz der Fotografen er-
scheinen aufgrund der geschilderten Schwierigkei-
ten in der Presse nur wenige Aufnahmen, die Blériot
in der Luft zeigen. Eines davon hat der namentlich
nicht bekannte Fotograf des Interessanten Blattes auf-
genommen (Abb. 3).16 Um sich ein besseres Sichtfeld
zu verschaffen, hat er sich aus den Zuschauerrei-
hen gelöst und sich über die hölzerne Absperrung
hinweggesetzt, die die Schaulustigen vom Flugplatz
trennt. Wohl mit Zustimmung der Ordner mit weißer
Armschleife , die am Rande der Absperrung zu sehen
sind (einen von ihnen erkennt man in der Bildmitte),
hat der Fotograf sich einige Meter weit auf das Flug-
feld vorgewagt. Von hier aus kann er die Zuschau-
ermenge, die sich am Rande des Platzes drängt, in
den Blick nehmen und zugleich das Fluggerät in der
Luft ablichten. Trotz allem Aufwand ist auch sein
Ergebnis nicht ganz befriedigend. Der Fotograf hat
sichtlich Mühe, die Dramatik des Augenblicks in ein
adäquates Bild zu übersetzen. Das Flugzeug ist aus
relativ großer Entfernung aufgenommen. Es erscheint
als kleiner, filigraner Schatten über der Zuschauer-
menge, das Gestänge des Fahrwerks ist gerade noch
auszumachen, den Piloten selbst sieht man gar nicht.
Aber nicht nur die Fotografen, auch die Zuschauer
selbst kämpfen mit den Schwierigkeiten der Wahr-
nehmung. Einige von ihnen haben Feldstecher mit-
gebracht, andere schützen ihre Augen mit der Hand
gegen das helle Sonnenlicht. Die ungewohnte Darbie- tung vollzieht sich – vor allem am Anfang – für das
Publikum viel zu schnell, als dass es ihr in Ruhe fol-
gen könnte. „Der Aufstieg“, notiert Tage später der
Redakteur der Wiener Luftschiffer-Zeitung, „hat sich
so schnell, so überraschend vollzogen, daß die über-
rumpelten Zuschauer erst nach und nach zu dem
deutlichen Bewusstsein gekommen sind, was sie ei-
gentlich vor sich sehen.“17 Und er ergänzt: „Man ist
gekommen, um fliegen zu sehen, und dennoch dau-
ert es Sekunden, Minuten, um sich über das Gefühl
hinüberzuretten, daß das Wahrgenommene ein bloßer
Traum sei.“
Neue Helden
Blériots triumphaler Auftritt in Wien verleiht den
österreichischen Flugpionieren gewaltigen Auftrieb.
Die Massenbegeisterung für das Fliegen hält bis zum
Ersten Weltkrieg ungebrochen an. Fast wöchentlich
berichten die Blätter über technische Neuerungen
und erzielte Rekorde. Flugzeuge und Piloten sind
umjubelte Stars in der Öffentlichkeit. Die Aeronau-
tik liefert in den Jahren vor dem Krieg – nicht nur in
Österreich – eine Art kompensatorischen Heroenkult. Abb. 3 Louis Blériots Flug am
23.
Oktober 1909 in Wien. Das
interessante Blatt, 28.
Oktober
1909, S.
11.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang