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272 Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls
Steinwurf entfernte Hofburg, blendet der Fotograf
bewusst aus. Er hebt die waghalsige Konstruktion
damit deutlich vom alten Wien ab und entwirft so
ein „amerikanisches“ Bild – mitten im barocken Wien.
Im Februar 1932 – der Bau des Hochhauses in der
Herrengasse ist noch in vollem Gange – erscheint
im Interessanten Blatt eine Anzeige des Bauherrn,
mit der die Vermietung angekurbelt werden soll.
Die beigefügte Illustration (Abb.
10) präsentiert das
Gebäude, wie es nach der Fertigstellung in einigen
Monaten aussehen wird. Wiederum wird die städti-
sche Umgebung, das heißt die enge Herrengasse, die
angrenzenden Gebäude, die Hofburg, gänzlich aus-
geblendet. In einer Art dramaturgischer Zuspitzung
wird der Hochhausbau isoliert und erscheint dadurch
monumentaler als er in Wirklichkeit ist. Beide Bilder,
Skalls Baustellenfoto und die Illustration der Anzeige,
zeigen, wie aufwendig es in der Zwischenkriegszeit
ist, moderne, „amerikanische“ Architektur in dem
von der K.-u.-k.-Zeit dominierten Wiener Stadtbild
zu verankern. Die moderne amerikanische Baukultur sickert nur
sehr langsam in Wien ein. 1929 etwa wird in der Ma-
riahilfer Straße ein modernes Schnellrestaurant (mit
Buffetanlage, Drehsesseln und Tellerwaschmaschine)
nach amerikanischem Vorbild eröffnet. Betreiber sind
die „Wiener Öffentlichen Küchen“ (WÖK), die ärme-
ren Bevölkerungsschichten ein billiges Speiseange-
bot liefern. Wenn also in Wien „amerikanisch“ gebaut
wird, dann in relativ kleinem Rahmen. Dennoch: Die
amerikanische Architektur wird in Wien wie auch
anderswo in Europa in den 1920er Jahren intensiv
diskutiert.9 Keinen geringen Anteil daran hat der
Wiener Richard Neutra, der 1923 in die USA zieht
und dort als Architekt und Architekturpublizist be-
kannt wird. Aber er ist weiterhin auch auf dem alten
Kontinent publizistisch aktiv. In den 1920er Jahren
erscheinen von ihm immer wieder Texte und Bilder
über amerikanische Baukultur in österreichischen
Zeitschriften.10 Seine ersten Bücher veröffentlicht er
noch auf Deutsch, sie erscheinen in Deutschland und
Österreich. Bekannt wird er 1927 mit seinem Band
Wie baut Amerika? 1930 erscheint sein von El Lis-
sitzky gestaltetes Buch Amerika. Die Stilbildung des
Neuen Bauens in den Vereinigten Staaten im Wiener
Anton Schroll Verlag.11 Im pädagogisch aufgebauten
Bildband wird die amerikanische Architektur in Foto-
grafien (teilweise von Neutra selbst aufgenommen)
vorgestellt.
Lichter der Großstadt
Im September 1933 widmet die Zeitschrift Profil
den Lichtern der Großstadt ein eindrucksvolles Um-
schlagbild (Abb.
11).12 Die Konturen der Stadt Wien
gehen fast vollständig im Dunkel der Nacht unter.
Zu sehen ist nur das Flimmern und Leuchten der
Werbeschriften, Uhren und Lampen, deren Ordnung
sich aufgelöst hat. Die Schriften verdichten und
überlagern sie sich zu einem wilden Lichttanz. An
die Stelle der orientierenden Wahrnehmung treten
diffuse Eindrücke. Es entsteht ein Spiel mit Zeichen,
das nur mit Mühe zu entziffern ist. Der namentlich
nicht bekannte Autor dieser Montage (er wird nur mit
den Anfangsbuchstaben N.A. benannt) zeichnet das
„amerikanische“ Wien als fiktives Stimmungsbild,
Abb.
10 Das Hochhaus in
der Herrengasse nach der
Fertigstellung.
Zeichnung. Das
interessante Blatt, 11. Februar
1932, S.
11.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang