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288 Experiment und Bewegung · Tanzschritte in eine neue Zeit
Da der Tanz eine flüchtige Kunst ist, spielt die
Fotografie eine wichtige Rolle, wenn es darum geht,
Aufführungen, Szenen und Posen für ein breiteres
Publikum zu dokumentieren. Die Schwestern Wie-
senthal arbeiten schon sehr früh mit bekannten
Fotografen zusammen, um ihre tänzerischen Inter-
pretationen „haltbar“ zu machen. Und zugleich sind
die Aufnahmen willkommene Werbemittel für ihre
Aufführungen. Im Jahr 1908 entsteht eine Fotoserie
von Rudolf Jobst, der Grete Wiesenthal bei einer aus-
drucksstarken Tanzeinlage im Freien zeigt (Abb.
4).
Die älteste der Schwestern tritt in einfach geschnitte-
ner Reformkleidung auf. Ihre Bewegungen sind neu
und ungewohnt. In gewaltigen Schritten durchmisst
sie den Raum, die Arme sind weit ausgestreckt, den
Kopf hat sie zurückgeworfen, das lange, wallende
Haar fällt offen zu Boden. Es ist dies ein neuer Stil im
Tanz, eine selbstbewusste künstlerische Geste, fest-
gehalten in einer faszinierenden Aufnahme. Auch die
Musikauswahl erfolgt durchaus selbstbewusst. Die
Ausdruckstänzerinnen interpretieren immer wieder
bekannte und populäre Stücke, etwa von Schumann
oder Offenbach, Strauss oder Lanner, und integrie-
ren die Rhythmen tänzerisch in ein neues Kunstwerk. Bei ihrem Auftritt im Freien interpretiert Grete Wie-
senthal beispielsweise das populärste Stück der Wie-
ner Musiktradition, den „Donauwalzer“ von Johann
Strauss.
Den Schwestern Wiesenthal schlägt nach ihren
ersten Darbietungen entrüstete Kritik und ebenso
sehr begeisterter Beifall entgegen. „Der Tanz der
Schwestern“, heißt es 1911 im Interessanten Blatt,
„hat überzeugenden Ausdruck. Sie tanzen Gefühle.
So hat es Elsa Wiesenthal kürzlich erklärt. Wehmut
und Lust, Hingebung und Sichversagen – alle mensch-
lichen Empfindungen, welche Kunst darzustellen
vermag, läßt sie uns in lebendiger Plastik sehen.“4
Die Befürworter sehen in den neuen, modernen For-
men des Tanzes einen willkommenen Affront gegen
die steifen gesellschaftlichen Umgangsformen. Die
Schwestern Wiesenthal propagieren, ganz im Ein-
klang mit der jungen Lebensreformbewegung und
der Secession, die Befreiung des Körpers. In ihren
Bemühungen um eine Erneuerung der tänzerischen
Bewegung als künstlerische Sprache greifen sie auf
internationale Anregungen und Vorbilder zurück.
Nach der Jahrhundertwende ist eine ganze Reihe
von Pionierinnen des neuen Tanzes in Wien zu Gast,
Abb.
4 Grete Wiesenthal inter-
pretiert in einer expressiven
Tanzeinlage den „Donauwalzer“
von Johann Strauss. Erdgeist,
Heft IX,
6.
März 1909, S.
330.
Foto: Rudolf Jobst.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang