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348 Die kurze Zeit der Avantgarde · Fotografische Aufbrüche um 1930
Reiz des Stofflichen herauszuarbeiten und Motive zu
finden, wo der Blick sonst vorübergleitet.“9 Born hat
die Ausstellung bereits vor der Eröffnung besucht
und liefert vorab einen umfassenden, in seinen Be-
schreibungen sehr genauen Einblick in die Schau. Die
ästhetischen Neuerungen der modernen Fotografie
hebt er besonders hervor: „Es sind Stilleben einer
Kleinwelt, die erst entdeckt werden mußte, Land-
schaften des Alltags (...). Es ist eine neue Art des gra-
phischen Ausdruckes, der sehr herb, mit den kompli-
zierten Ornamenten der Wirklichkeit, seine Flächen
organisiert. Der nach oben gerückte Horizont, wie er
bei der Draufsicht entsteht, spielt eine große Rolle.
Die Verschiebungen der Perspektive ergeben die Sen-
sation eines erregenden Raumerlebnisses, Schatten
und Licht sind die Träger des Rhythmus. Unverse-
hens kommt eine Übersetzung der Wirklichkeit zu-
stande, die durchaus künstlerisch ist. Es war nur ein
Schritt vom extremen Realismus dieser neuen Sach-
lichkeit zur Überwindung des Realismus durch ein
abstraktes Gefüge von Hell und Dunkel. Auch dafür
bietet die Ausstellung eindrucksvolle Beispiele. Vom
rein Dokumentarischen, wie es vor allem die Russen
pflegen, bis zum Spiel der freien Phantasie, wie es
der Pariser Man Ray als erster im Lichtbild verwirk-
licht hat, sind alle Zwischenstufen vertreten.“10
Während Born den ausländischen Arbeiten im
Stil der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Sehens
überaus aufgeschlossen gegenübersteht, ist seine Ein-
schätzung, was die österreichische Abteilung betrifft,
weit verhaltener. Die Mischung zwischen modernen
und konventionellen Fotografien überzeugt ihn nicht
ganz, mehr als höfliche Anerkennung äußert er nicht:
„Der österreichische Werkbund“, so Born, „der die
Veranstaltung der Lichtbildschau in Wien ermög-
licht hat, fügte der aus Deutschland übernommenen
Kollektion einen eigenen Raum mit Arbeiten öster-
reichischer Photographen hinzu. Das ist besonders
dankenswert. Die einheimischen Kräfte stehen nun
in unmittelbarer Nachbarschaft mit den Führern der
internationalen Bewegung. Man sieht, daß es dem
österreichischen Lichtbildner zwar noch etwas an
der Entschiedenheit fehlt, mit der man in anderen
Ländern den Problemen zu Leibe geht, daß er aber
als Positives den Geschmack mitbringt, mit dem er dem spröden Material die feinsten Reize abzugewin-
nen weiß.“11
Ganz ähnlich urteilt die Kritikerin Alma Stefanie
Frischauer in der Zeitschrift Moderne Welt über die
Wiener Ausstellung. Auch sie begrüßt die Bilder der
Avantgardisten, insbesondere die Aufnahmen im
Stil der Neuen Sachlichkeit. „Der moderne Fotograf
nennt Sachlichkeit sein oberstes Prinzip. Die absicht-
lich unscharfe oder gar künstlich gestellte Aufnahme
hat aufgehört zu existieren: das Lichtbild soll keine
zierende Dekoration, sondern ehrliches Dokument
sein. Dem unbestechlichen Werkzeug des Objektivs,
der kleinen Linse, die allen menschlichen Sinnen an
Schärfe überlegen, im Bruchteil einer Sekunde jeden
optischen Eindruck erfaßt, ist die Hauptleistung über-
tragen.“12 Und auch sie hat, ebenso wie Born, eher
die ausländischen Bildbeispiele vor Augen, wenn sie
die Arbeiten der Fotopioniere genauer beschreibt. „Es
ist erstaunlich, welche Fülle von Überraschungen die
Oberfläche einer Nußschale oder eines Eisblocks, die
Struktur eines Gewebes, das Gestänge einer Eisen-
konstruktion oder ein einfacher Treppenlauf zu er-
bringen vermögen. In der Enthüllung, die keine Ver-
schleierung und nur Präzision kennt, liegt der Wert
dieser neuen Fotos. Sie entdecken die Wirklichkeit
und bringen durch die Schärfe ihrer Objektive, durch
kühne Licht- und Schattenkombinationen, durch un-
erwartete Verkürzungen und Perspektiven den Alltag
erneut zum Bewußtsein. Neben der neuen Fotografie,
die insbesondere in Deutschland, in Rußland und in
Amerika gepflegt wird, nimmt die Ausstellung des
Werkbundes Stellung zum Problem des Films und
proklamiert einen neuen geistigen Film mit starker
innerer Konzentration an Stelle kostspieliger Prunk-
filme, die hinter großer Aufmachung ihre künstleri-
sche Leere nicht zu verbergen vermögen.“13
Wer sind diese beiden Kritiker, die die neue Fo-
tografie in Wien so stürmisch begrüßen? Sie haben
einiges gemeinsam. Beide sind in der Fotogeschichts-
schreibung bisher vollkommen unbekannt. Wolf-
gang Born, geb. 1893 in Breslau, und Alma Stefanie
Frischauer, geb. 1899 in Lemberg als Alma Stefanie
Wittlin, sind in den Wirren des Ersten Weltkriegs
nach Wien gekommen. Beide haben beim Wiener
Kunsthistoriker Josef Strzygowski promoviert, Born
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang