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390 Fotografisches Feuilleton · „Der Sonntag“: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie
sich eine Doppelseite mit insgesamt 14 Aufnahmen
einem scheinbar ganz einfachen Thema: „Ein Mann
steht am Fenster ...“ (Abb.
9). Der Mann selbst ist nicht
zu sehen, wohl aber das, was er (angeblich) auf der
Straße unter ihm sieht: einen Brotträger und einen
Dachdecker, Straßenkehrer und Passanten, Kinder
und einen Geigenspieler, einen Angestellten, der ins
Büro eilt, und Frauen, die in ein Gespräch vertieft
sind, Arbeiter, Reisende. Das Leben auf der Straße
erscheint in dieser Anordnung in zahllose kleine Au- genblicke zerteilt, die wir erst lesend und schauend
zu einem Ganzen zusammensetzen müssen. Rudolf
Spiegel, der Fotograf, hat alle Szenen aus der Vogel-
perspektive aufgenommen und sie dadurch in ein un-
gewohntes, verfremdendes Licht gerückt. Verstärkt
wird dieser Kunstgriff, der dem Neuen Sehen entlehnt
ist, durch die langen bizarren Schatten, die den Fi-
guren zusätzlich etwas Unwirkliches verleihen. Diese
Bildgeschichte bricht mit den Regeln der klassischen
Reportage, die, meist unterstützt durch die Gestal-
tung, eine kompakte, zusammenhängende Erzählung
liefert. Hier hingegen werden formal ganz ähnlich ge-
staltete Wahrnehmungselemente grafisch in ein stren-
ges Nebeneinander gebracht. Der Bildtext bindet die
Einzelbilder aneinander und durchzieht das Tableau
formaler Nachbarschaft mit einem inhaltlichen Faden.
Poetik des
Alltags
Hans Oplatka gelingt es innerhalb kürzester Zeit,
die besten und innovativsten Fotografen um sich zu
versammeln. Da die Bilderzeitung, wie sie ihm vor-
schwebt, ihren Schwerpunkt nicht in der aktuellen
politischen Berichterstattung hat, sondern einen stär-
ker feuilletonistischen Zugang zur Welt verfolgt, kann
Oplatka mit den Arbeiten klassischer Pressefotogra-
fen, die aktuelle politische und gesellschaftliche Er-
eignisse in konventionellen Einzelbildern dokumen-
tieren, wenig anfangen. Stattdessen wendet er sich
an Lichtbildner, die imstande sind, in Geschichten zu
denken, die einen Blick für ungewöhnliche Themen
und Perspektiven haben und die ein sicheres Gespür
für die Dramatik des Alltags mitbringen. Einer dieser
Fotografen, die Oplatka für den Sonntag gewinnt, ist
Rudolf Spiegel. Er ist 1896 in Wien geboren, nach der
Realschule dient er als Soldat im Ersten Weltkrieg.
Ende 1920 kehrt er aus der russischen Kriegsgefan-
genschaft aus Wladiwostok heim. In der Zwischen-
kriegszeit arbeitet er zeitweise als Bankbeamter,
zwischendurch ist er arbeitslos. Ende der 1920er
Jahre beginnt Spiegel zu fotografieren – zunächst als
Amateur. Als er 1937 eine Ausbildung an der Gra-
phischen Lehr- und Versuchsanstalt beginnt, ist er
bereits über 40 und als Fotograf bekannt.29 Seine ers-
ten gedruckten Aufnahmen erscheinen 1929 im sozi-
Abb.
7, 8 „Ein Garten im Lan-
de der
Armen“. Fotoreportage
über einen Kindergarten im
Wiener Arbeiterbezirk Sim-
mering. Der Sonntag, 28.
Feb-
ruar 1937, Titelseite, S.
4 und 5.
Fotos: Robert Haas.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang