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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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410 Fotografisches Feuilleton · „Der Sonntag“: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie erinnert sich Jahre später an diesen Tag. „Zu dritt saßen wir (Oplatka, Spira und Soyfer, A. H.) im Café Dankl am Gürtel unter dem Stadtbahnviadukt bei der Volksoper. Zum ersten Mal marschierten die gesam- ten Naziformationen Währings in voller Uniform in der Stärke von ungefähr drei Kompanien hinter der Hakenkreuzfahne in Richtung Innere Stadt. (…) Wäh- rend die Nazis defilierten, sprachen wir darüber, wie wir herauskommen. Ich riet gegen die CˇSR (eine Falle für Österreicher) und gegen die Schweiz, wegen der Haltung der Behörden. Ich sagte via Italien, Frank- reich oder sogar via Deutschland.“74 Auch Bil Spira erinnert sich an diesen Tag: „Im März 1938, als sich Hitler Österreich einverleibte, war ich 25 Jahre alt.“75 Und er berichtet von seinem letz- ten Tag in der Sonntag-Redaktion: „Ich fuhr in die Re- daktion des Wiener Tag, wo mir mein Gehalt und die fälligen Honorare ausbezahlt wurden. Ich betrat un- ser Redaktionszimmer, leerte meine Schublade und nahm, was mir gehörte. Ich nahm auch die Photos aus dem Film ‚Eviva Mexiko‘ von Eisenstein, die an die Wand geheftet waren, mit. Im Stiegenhaus begegne- te ich einer Gruppe von drei Gestapomännern. Jeder hatte eine Art Taktstock oder Reitpeitsche unterm Arm. Wir wichen einander aus. Als ich wieder auf der Straße war, atmete ich erleichtert auf. Ich begeg- nete Hans Oplatka und sagte ihm, daß die Gehälter und Honorare bereits bezahlt seien. Wir trafen Jura (Soyfer, A. H.) und besprachen die Situation. Es war uns klar, daß es keinen ‚Sonntag‘ mehr gab. Wichtig war, daß es überhaupt noch Wochen- und Sonntage gab. Wir wollten alle Österreich verlassen. Aber wo- hin? Und wie? Darauf fanden wir keine gemeinsame Antwort. Da mußte jeder für sich selbst suchen.“76 Hans Oplatka, Bil Spira und Jura Soyfer sind jüdi- scher Herkunft, ebenso zahlreiche andere Mitarbeiter und Fotografen des Sonntag, wie etwa Robert Haas, Lothar Metzel, Otto und Gusti Skall. Im März 1938 beginnt ihre Verfolgung. Einigen gelingt die Flucht aus Wien. Otto und Gusti Skall flüchten im Novem- ber 1938 nach Prag. Kurz vor der Deportation ins KZ begehen sie Selbstmord. Gusti Skall stirbt am 23. Januar 1942 an einer Überdosis Schlaftabletten, Otto Skall erschießt sich einen Tag danach.77 Die drei engsten Freunde, Oplatka, Spira und Soyfer, schlagen bei ihrer Flucht ganz unterschiedliche Richtungen ein. Hans Oplaka geht (entgegen seinem eigenen ur- sprünglichen Ratschlag) nach Prag und arbeitet dort für einige Monate als Bildredakteur für die tschechi- sche Illustrierte Zeit im Bild. Im Herbst 1938, nach dem Münchner Abkommen, in welchem dem nati- onalsozialistischen Deutschland Teile Tschechiens zugeschlagen werden, flieht er über Jugoslawien und Italien nach Paris und später nach England, wo er sich während des Krieges den alliierten Truppen an- schließt. Nach dem Krieg kann er sich in England als Fotograf etablieren.78 Bil Spira gelingt es – nach einer mehrwöchigen Haft –, nach Paris zu flüchten, wo er Oplatka wieder begegnet.79 Er schlägt sich als Zeich- ner durch, wird 1939 als „feindlicher Ausländer“ interniert und ab 1942 in mehrere Konzentrations- lager verbracht, die er überlebt. Jura Soyfer schließ- lich versucht am 13. März 1938 im vorarlbergischen Montafon auf Skiern über die Berge in die Schweiz zu gelangen. Er wird von österreichischen Grenzbeam- ten verhaftet. Im Juni 1938 wird er in das KZ Dachau gebracht, wo er am 16. Februar 1939 an Typhus stirbt. Am 12. März 1938 werden zahlreiche Redakteure und leitende Angestellte des Verlagshauses Vernay verhaftet. Der Konzern wird unter nationalsozialisti- sche Aufsicht gestellt. Er erhält mit Ernst Thiel (spä- ter, ab 1941: Albert Klapper) einen kommissarischen Verwalter, der mit der „Abwicklung“ und Verwertung des Besitzes betraut wird.80 Zum Konzern gehören neben weiteren Zeitschriften, von denen einige (etwa die Bühne) unter neuer Leitung weitergeführt werden, auch eine moderne Druckerei und mehrere Liegen- schaften. 1939 wird das Unternehmen an eine Gesell- schaft im Besitz von Ernst Metten verkauft, dessen Sohn verkauft die Druckerei 1941 weiter.81 Das Un- ternehmen wird nach dem Krieg weitergeführt. Hans Oplatka kehrt nicht mehr nach Wien zurück. Er lässt sich in Liverpool nieder und arbeitet als freiberufli- cher Fotograf für englische Magazine wie Picture Post, Lilliput, Strand Magazine und Contact, aber auch für ausländische Auftraggeber. Er stirbt 1992.
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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Subtitle
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Author
Anton Holzer
Publisher
Primus Verlag
Date
2014
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-86312-073-3
Size
23.0 x 29.0 cm
Pages
498
Keywords
Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
Category
Medien

Table of contents

  1. Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
  2. Neue illustrierte Welt Einleitung 10
  3. Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
  4. Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
  5. Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
  6. Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
  7. Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
  8. Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
  9. Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
  10. Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
  11. Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
  12. Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
  13. Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
  14. Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
  15. Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
  16. Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
  17. Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
  18. Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
  19. Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
  20. Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
  21. Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
  22. Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
  23. Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
  24. Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
  25. Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
  26. Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
  27. Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
  28. Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
  29. Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
  30. Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
  31. Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
  32. Anhang
    1. Anmerkungen 446
    2. Fotografinnen und Fotografen 1890 bis 1945 Biografische Notizen 466
    3. Literatur 483
    4. Zeitungen und Zeitschriften 490
    5. Index 491
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