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410 Fotografisches Feuilleton · „Der Sonntag“: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie
erinnert sich Jahre später an diesen Tag. „Zu dritt
saßen wir (Oplatka, Spira und Soyfer, A. H.) im Café
Dankl am Gürtel unter dem Stadtbahnviadukt bei der
Volksoper. Zum ersten Mal marschierten die gesam-
ten Naziformationen Währings in voller Uniform in
der Stärke von ungefähr drei Kompanien hinter der
Hakenkreuzfahne in Richtung Innere Stadt. (…) Wäh-
rend die Nazis defilierten, sprachen wir darüber, wie
wir herauskommen. Ich riet gegen die CˇSR (eine Falle
für Österreicher) und gegen die Schweiz, wegen der
Haltung der Behörden. Ich sagte via Italien, Frank-
reich oder sogar via Deutschland.“74
Auch Bil Spira erinnert sich an diesen Tag: „Im
März 1938, als sich Hitler Österreich einverleibte, war
ich 25 Jahre alt.“75 Und er berichtet von seinem letz-
ten Tag in der Sonntag-Redaktion: „Ich fuhr in die Re-
daktion des Wiener Tag, wo mir mein Gehalt und die
fälligen Honorare ausbezahlt wurden. Ich betrat un-
ser Redaktionszimmer, leerte meine Schublade und
nahm, was mir gehörte. Ich nahm auch die Photos aus
dem Film ‚Eviva Mexiko‘ von Eisenstein, die an die
Wand geheftet waren, mit. Im Stiegenhaus begegne-
te ich einer Gruppe von drei Gestapomännern. Jeder
hatte eine Art Taktstock oder Reitpeitsche unterm
Arm. Wir wichen einander aus. Als ich wieder auf
der Straße war, atmete ich erleichtert auf. Ich begeg-
nete Hans Oplatka und sagte ihm, daß die Gehälter
und Honorare bereits bezahlt seien. Wir trafen Jura
(Soyfer, A. H.) und besprachen die Situation. Es war
uns klar, daß es keinen ‚Sonntag‘ mehr gab. Wichtig
war, daß es überhaupt noch Wochen- und Sonntage
gab. Wir wollten alle Österreich verlassen. Aber wo-
hin? Und wie? Darauf fanden wir keine gemeinsame
Antwort. Da mußte jeder für sich selbst suchen.“76
Hans Oplatka, Bil Spira und Jura Soyfer sind jüdi-
scher Herkunft, ebenso zahlreiche andere Mitarbeiter
und Fotografen des Sonntag, wie etwa Robert Haas,
Lothar Metzel, Otto und Gusti Skall. Im März 1938
beginnt ihre Verfolgung. Einigen gelingt die Flucht
aus Wien. Otto und Gusti Skall flüchten im Novem-
ber 1938 nach Prag. Kurz vor der Deportation ins
KZ begehen sie Selbstmord. Gusti Skall stirbt am
23. Januar 1942 an einer Überdosis Schlaftabletten, Otto Skall erschießt sich einen Tag danach.77 Die drei
engsten Freunde, Oplatka, Spira und Soyfer, schlagen
bei ihrer Flucht ganz unterschiedliche Richtungen
ein. Hans Oplaka geht (entgegen seinem eigenen ur-
sprünglichen Ratschlag) nach Prag und arbeitet dort
für einige Monate als Bildredakteur für die tschechi-
sche Illustrierte Zeit im Bild. Im Herbst 1938, nach
dem Münchner Abkommen, in welchem dem nati-
onalsozialistischen Deutschland Teile Tschechiens
zugeschlagen werden, flieht er über Jugoslawien und
Italien nach Paris und später nach England, wo er
sich während des Krieges den alliierten Truppen an-
schließt. Nach dem Krieg kann er sich in England als
Fotograf etablieren.78 Bil Spira gelingt es – nach einer
mehrwöchigen Haft –, nach Paris zu flüchten, wo er
Oplatka wieder begegnet.79 Er schlägt sich als Zeich-
ner durch, wird 1939 als „feindlicher Ausländer“
interniert und ab 1942 in mehrere Konzentrations-
lager verbracht, die er überlebt. Jura Soyfer schließ-
lich versucht am 13. März 1938 im vorarlbergischen
Montafon auf Skiern über die Berge in die Schweiz zu
gelangen. Er wird von österreichischen Grenzbeam-
ten verhaftet. Im Juni 1938 wird er in das KZ Dachau
gebracht, wo er am 16. Februar 1939 an Typhus stirbt.
Am 12. März 1938 werden zahlreiche Redakteure
und leitende Angestellte des Verlagshauses Vernay
verhaftet. Der Konzern wird unter nationalsozialisti-
sche Aufsicht gestellt. Er erhält mit Ernst Thiel (spä-
ter, ab 1941: Albert Klapper) einen kommissarischen
Verwalter, der mit der „Abwicklung“ und Verwertung
des Besitzes betraut wird.80 Zum Konzern gehören
neben weiteren Zeitschriften, von denen einige (etwa
die Bühne) unter neuer Leitung weitergeführt werden,
auch eine moderne Druckerei und mehrere Liegen-
schaften. 1939 wird das Unternehmen an eine Gesell-
schaft im Besitz von Ernst Metten verkauft, dessen
Sohn verkauft die Druckerei 1941 weiter.81 Das Un-
ternehmen wird nach dem Krieg weitergeführt. Hans
Oplatka kehrt nicht mehr nach Wien zurück. Er lässt
sich in Liverpool nieder und arbeitet als freiberufli-
cher Fotograf für englische Magazine wie Picture Post,
Lilliput, Strand Magazine und Contact, aber auch für
ausländische Auftraggeber. Er stirbt 1992.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang