Seite - 59 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Bild der Seite - 59 -
Text der Seite - 59 -
59
Am 2. Dezember 1908 veröffentlicht Österreichs
Illustrierte Zeitung aus Anlass des 60. Thronjubiläums
von Kaiser Franz Joseph eine 200 Folioseiten starke
Sondernummer. Die Redaktion scheut weder Mühe
noch Aufwand, um dem ehrwürdigen Anlass ent-
sprechend eine besonders prächtige Ausgabe zusam-
menzustellen. Die Sondernummer ist sogar für zehn
Kronen als gebundene Luxusausgabe im Buchhandel
erhältlich. Auf dem Umschlag prangt ein Porträt des
Kaisers, aufgenommen vom renommierten Wiener
Atelier Adèle, aufwendig gedruckt von der Druckerei
Philipp & Kramer, der Hausdruckerei des Blattes. Im
Innenteil werden den Lesern zahlreiche optische und
grafische Highlights geboten. Da findet sich etwa eine
„Photocomposition“, also eine Fotomontage, die eine
fiktive Begegnung zwischen dem Kaiser und der hö-
heren Wiener Gesellschaft zeigt. Regierungsvertreter,
Militärs, Schauspieler, Adelige und zahlreiche andere
Prominente huldigen dem greisen Monarchen. Alle-
samt sind sie in fotografischen Aufnahmen dargestellt
und zu einer Gruppenszene zusammengefasst wor-
den. Eine weitere Kaiserhuldigung, die vor dem Wie-
ner Rathaus stattfindet, wird in einem monumentalen
Gruppenbild festgehalten. 1200 niederösterreichische
Bürgermeister haben für die Feierlichkeit, vor allem
aber für den Fotografen Aufstellung genommen.
Schließlich findet sich in der Sondernummer unter
dem Titel „Die österreichische Publizistik“ noch eine
weitere doppelseitige „Photokomposition“ (Abb. 1).
Knapp 150 leitende Redakteure und Herausgeber be-
deutender Wiener Zeitungen haben sich in der Mon-
tage zu einer „Festversammlung der Presse im Bil-
de“ eingefunden. Die Inszenierung ist aus mehreren
Gründen bedeutsam: Sie ist nicht nur eine kunstvoll
und aufwendig gestaltete Fotomontage, sondern auch
ein eindrucksvolles Beispiel einer „Photokompositi-
on“ in der illustrierten Presse. Vor allem aber ist die
Bilddoppelseite ein interessanter Beleg für die grafi-
schen Umbrüche in der Seitengestaltung. Die Abbil- dung ist schließlich – und das ist mindestens genau-
so bemerkenswert – ein spannendes Dokument zur
Wiener Presselandschaft um 1900. Erstmals werden
die wichtigsten Journalisten und Herausgeber, zusam-
mengefasst in einem Bild, in fotografischen Porträts
gezeigt. Nicht zufällig greift diese journalistische
Kaiserhuldigung auf das modernste Reproduktions-
mittel zurück, das in diesen Jahren zur Verfügung
steht, die Fotografie. Da von vielen der Dargestellten
keine Fotoporträts aus dieser Zeit bekannt sind, ist
die Zusammenstellung auch von eminenter biografi-
scher Bedeutung.
Die Fotomontage stammt von Siegmund Schnei-
der, dem leitenden Redakteur des Wochenblatts
Österreichs Illustrierte Zeitung. Das Klischee wird von
der Firma A. (Andreas) Krampolek, einem renom-
mierten Wiener Druckbetrieb, hergestellt. Schnei-
der, geb. 1861, ist ein mediales Multitalent: Er ist als
Journalist und Autor tätig, arbeitet als Pressefoto-
graf, Zeichner und Grafiker. Seit der Gründung der
Österreichischen Illustrirten Zeitung im Jahr 1893 (das
Blatt wird später in Österreichs Illustrierte Zeitung um-
benannt) arbeitet er für diese Wochenzeitung. Bereits
für die erste Nummer liefert er eine „Photo-Composi-
tion“ (sie zeigt den Kaiser im Hofsalonwagen). In den
folgenden Jahren gestaltet er zahlreiche Titelseiten,
stellt Fotoreportagen1 zusammen und setzt auch im-
mer wieder Fotomontagen ein. Seine Spezialität sind
monumentale Gruppenbilder, die er aus fotografi-
schen Einzelporträts zusammensetzt und zu einem
neuen architektonischen Ensemble verschmilzt.2
Auch beim Aufbau der Szene „Die österreichi-
sche Publizistik“ geht Schneider systematisch vor.
In mühseliger Sammelarbeit trägt er insgesamt 144
Fotoporträts wichtiger österreichischer Redakteure
zusammen und komponiert aus diesem Rohmaterial
ein imposantes Gruppenbild vor der Kulisse des Par-
laments. „Wenn auch hie und da manch stolzer Name
in diesem Kreise fehlt, so darf es uns doch mit der
6Bild
und Text ·
Die Rhetorik der Zeitungsseiten
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang