Seite - 304 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945

304 „Die Republik hat die Straße zur vertikal ausge- spannten Zeitung gewandelt. Wer täglich etwa die Herrengasse liest, bekommt kalte Füße, ist aber auf dem laufenden.“1 In dieser knappen Beobachtung fasst der Schriftsteller Alfred Polgar in den 1920er Jahren die Veränderung des öffentlichen Raumes zu- sammen. Mit der „vertikal ausgespannten Zeitung“ ist die Schrift der politischen und kommerziellen Reklame gemeint – Anzeigen, Plakate, Lichtschriften und Ähnliches. Etwa zur selben Zeit beschäftigt sich der österreichische Grafiker und Publizist Traugott Schalcher mit der radikalen Umgestaltung des Stra- ßenbildes in den letzten Jahren. „Es gibt“, so schreibt er 1927 in seinem Buch Die Reklame der Straße, „auf Erden keinen noch so vergessenen Winkel von eini- Schöne neue Warenwelt · Reklame und Mode in der Fotografie23 gen Hundert Häusern, der nicht durch Reklame sei- ne Zugehörigkeit zu unserer Zivilisation bekundet. Überall (...) beginnt der Riesenpinsel der Reklame die bisherige Sonderart zu übertünchen, wegzupinseln.“2 Sein ein wenig wehmütiges Fazit lautet daher: „Nicht Hunger und Liebe, die Reklame regiert die Welt.“3 Reklame  der  Straße Die öffentliche Reklame verwandelt, so Polgar, die Straße in einen Text. Fassaden werden zu Trägern von Werbebotschaften, Litfaßsäulen, Plakate und Wer- beschriften vervielfachen sich. Diese Nutzung des öf- fentlichen Raums als Werbeträger beschleunigt sich in der Zwischenkriegszeit auf ungeahnte Weise. Ganz Abb.  1  Bereits  um  die  Jahr-  hundertwende  ist  die  die  Maria-  hilferstraße,  die  bekannteste  Wiener  Einkaufsmeile,  mit  Werbetexten  und  Fassaden-  schriften  überzogen.  Österreichs Illustrierte Zeitung,  4.  Januar  1903,  S.  288.  Zeichnung:  A.  Bienert.