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Im Rampenlicht ·
Der Kaiser
im Blick der Fotografen 8
Der mächtige schwarze Ring hebt sich scharf von
den grauen Umrissen ab (Abb. 1). Die Knochen treten
dunkler hervor als die Fleischpartien, die im mehli-
gen Grau des Hintergrundes nahezu verschwimmen.
Die Röntgenaufnahme erscheint am 27. Juli 1904 in
der illustrierten Zeitung Wiener Bilder. Sie wird als
kleine Sensation angepriesen, denn sie zeigt – die
Hand des Kaisers Franz Joseph I. Und sie ist, darauf
wird ausdrücklich verwiesen, die „einzig autorisier-
te Reproduktion der mit Röntgenstrahlen erfolgten
Aufnahme von Professor Réczey vom physikalischen
Institut der Universität in Budapest.“1
Wenige Wochen zuvor hat der über 70-jährige
Monarch bei einer Reise nach Budapest das Labora-
torium des physikalisch-technischen Instituts an der
Universität aufgesucht. Professor Imre Réczey, dem
Leiter der Einrichtung, wurde, so heißt es in dem Be-
richt, „die hohe Ehre zu Teil, eine photographische
Aufnahme der Hand des Kaisers mittelst Röntgen-
strahlen machen zu dürfen. Der Liebenswürdigkeit
des genannten Gelehrten verdanken wir die erste in
die Öffentlichkeit gelangte Kopie dieser interessan-
ten Aufnahme, welche des ungeteilten Interesses al-
ler Kreise sicher sein kann. Die Aufnahme zeigt die
schön geformte Hand unseres erhabenen Herrschers,
jene Hand, welche seit nunmehr 56 Jahren die Geschi-
cke unseres Vaterlandes lenkt, und bei dem Anblick
des Bildes entstehen in dem Betrachter wohl Gefühle
wärmster Verehrung für den geliebten und allverehr-
ten Monarchen, dessen väterliche Hand so fürsorglich
die Geschicke von Millionen seiner Untertanen lenkt.
Der Goldene Siegelring, den der Monarch am Goldfin-
ger trägt, hebt sich, ebenso wie die Goldstickerei des
Uniformärmels aus dem schemenhaften Bilde ab, das
wohl als erstes seiner Art gelten darf, da bisher noch
kein Herrscher sich entschlossen hat, sich dem Rönt-
gen-Apparat zur Aufnahme anzuvertrauen.“2
Die Röntgenfotografie, die am Körper des greisen
Monarchen ausprobiert wird, ist erst ein knappes Jahrzehnt alt. Wilhelm Conrad Röntgen hat die un-
sichtbaren Strahlen am 8. November 1895 entdeckt.
Noch nie ist ein Staatsoberhaupt auf diese Weise ent-
kleidet gezeigt worden. Mithilfe der Technik ist es
nun möglich, hinter die Körperkulissen des „erhabe-
nen Herrschers“ zu blicken. Im Röntgenbild scheint
dessen Hand zum Greifen nahe, auch wenn wohl nie-
mand dieses Knochengerüst drücken will.
Es ist bemerkenswert, dass dieses Bild nicht in
den Schränken der Wissenschaft verschwindet, son-
dern sogleich als Sensation einem Massenpublikum
zugänglich gemacht wird. Noch nie ist die Fotogra-
fie dem Kaiser so nahe gekommen, noch nie ist ein
Körperteil des Monarchen in Großaufnahme gezeigt
worden, herausgelöst aus allen menschlichen Zusam-
menhängen, zurechtgerückt in einem neutralen Vier-
eck, dem Lichttisch der Röntgenapparatur.
Abb. 1 Die Hand Kaiser Franz
Josephs im Röntgenbild.
Die
Aufnahme
entsteht 1904 am
physikalisch-technischen
Ins-
titut der Universität Budapest
unter der Leitung von Professor
Imre Réczey. Wiener Bilder,
27.
Juli 1904, S.
4.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang