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Am 28. Oktober 1923 findet im Wiener Prater das
erste Damen-Automobilrennen statt. „Damen am Vo-
lant (Lenkrad, A. H.) zu sehen ist keine Seltenheit“,
heißt es einige Tage später in einem Bildbericht
im Interessanten Blatt. „Die chauffierende Frau hat
auch in diesem Sporte die Gleichberechtigung mit
dem Manne. Ein Autorennen von Damen, wie es am
28. Oktober in der Praterallee veranstaltet wurde, war
aber doch eine sensationelle Neuheit, die zahlreiche
Zuschauer zum Startplatz beim Lusthaus zog. (…) Der
Anblick der zum Start anfahrenden Konkurrentin-
nen war hübsch, wenn auch manche der Damen sich
nicht in stilgemäßem Sportkostüm zeigten. Manche
schienen ein Rennen mit einer Abendunterhaltung
zu verwechseln. (…) Die beste Zeit des Tages hatte
Olga Frühwald in 54 Sekunden gefahren.“1 Die Pilotin
siegt in ihrem Gräf & Stift-Automobil in der Kategorie
der Fahrzeuge mit über 2,5 Liter Hubraum.
Dem Bericht beigefügt ist ein Foto, das der Wiener
Fotograf Carl Zapletal am Rande der Veranstaltung
aufgenommen hat (Abb.
1). Das schräg von unten auf-
genommene Porträt zeigt den Kopf der Siegerin Olga
Frühwald in engem Bildausschnitt. Ihre äußere Er-
scheinungsweise ist für die Zeitgenossen ungewohnt
und neu. Frühwald trägt eine eng anliegende lederne
Pilotenhaube, darüber eine Brille, die sie in die Stirn
geschoben hat. Ihre Haare sind fast vollständig unter
der Schutzkleidung verborgen, nur ein paar Büschel
lugen unter ihrer Haube hervor. Fast könnte man die
Pilotin für einen Mann halten. Solche Frauenporträts
waren bisher noch nicht in der Öffentlichkeit zu se-
hen gewesen.
Erschütterungen im Verhältnis der Geschlechter
Frauen am Steuer und gar am Lenkrad eines
Rennwagens sorgen in den Jahren nach dem Ersten
Weltkrieg für Aufsehen. 1912 gibt es in Wien erst 25
geprüfte Automobilistinnen, 1923 hat sich deren Zahl bereits auf über 70 erhöht, Tendenz stark steigend.2
Dennoch ist damit der Anteil der Frauen unter den
Automobilisten Anfang der 1920er Jahre noch ver-
schwindend gering. Aber in anderen Bereichen des
öffentlichen Lebens hat die Präsenz der Frauen stark
zugenommen. Das betrifft vor allem das Arbeitsleben.
Während des Krieges hat sich der Prozentsatz der
berufstätigen Frauen stark erhöht. Im Jahr 1915 sind
bereits an die 40 Prozent der bei der Wiener Sozial-
versicherung gemeldeten Beschäftigten Frauen. Von
den rund 30 000 Wiener Angestellten sind mehr als
die Hälfte weiblich.3
Vor diesem Hintergrund ruft das Bild der „Neuen
Frau“, die selbstbewusst ehemalige Männerdomänen
(wie den Motorsport) in Besitz nimmt, durchaus am-
bivalente Reaktionen hervor. Einerseits wird bewun-
dernd über sie berichtet. Zugleich aber werden die
Bubikopf und Zigarette ·
Bilder der „Neuen Frau“ 20
Abb.
1 Damen-Automobilren-
nen im Wiener Prater, Oktober
1923. Olga Frühwald siegt in
der
Kategorie über 2,5 Liter Hub-
raum. Sie legt die
1300 Meter
lange Strecke
in 54 Sekunden
zurück. Das interessante Blatt,
8.
November 1923, S.
4. Foto:
Carl Zapletal.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang