Seite - 363 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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Im August 1934 steht das Titelblatt der Zeitschrift
Moderne Welt ganz im Zeichen der Heimat (Abb.
1).1
Zu sehen ist ein Trachtenpaar inmitten einer länd-
lich-bäuerlichen Umgebung, dahinter ragen die Ber-
ge auf. Die Zeitschrift, vor wenigen Jahren noch ein
Aushängeschild der gemäßigt modernen Fotografie,
schwenkt 1933 innerhalb kürzester Zeit auf den kon-
servativen Regierungskurs ein. Das schlägt sich nicht
nur in den Texten und Bildern, sondern auch in der
Gestaltung nieder. Der Schriftzug „Moderne Welt“,
der über dem gezeichneten Trachtenpaar vor der Ge-
birgslandschaft prangt, bezeichnet nun, am Beginn
des austrofaschistischen Regimes, eine ganz andere
Moderne als noch ein paar Jahre zuvor.
Das Heft, das wenige Tage nach der Ermordung
des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß erscheint,
beginnt im Innenteil patriotisch und staatstragend
mit einem Porträt des ehemaligen Kanzlers.2 Gleich
anschließend skizziert der konservative Kärntner
Schriftsteller und hohe Kulturpolitiker der „Stän-
destaates“, Guido Zernatto, am Beispiel der „Volks-
trachtmode“ den neuen antiurbanen Geist der Ge-
genwart. „Es liegt“, schreibt er, „im Zug der Zeit, die
sich jetzt immer mehr der Liebe zum Natürlichen
und zum Ländlichen zuwendet, daß die Volkstracht
zur Mode wird. In den Städten begegnen uns immer
öfter Leute, besonders Damen, deren Kleider eine
Abwandlung, eine Verniedlichung oder Verfeinerung
der Volkstracht sind. Der tiefere Grund dafür mag da-
rin liegen, daß auch die städtische Bevölkerung von
einer gewissen Sehnsucht erfaßt worden ist, auch im
Äußeren und im Äußerlichen zu erkennen zu geben,
daß sie dem Lande, in dem sie wohnt, zugehörig ist.“3
Illustriert ist der Beitrag mit Trachtenfotos von Rudolf
Koppitz, der in diesen Jahren zum gefeierten Star der
österreichischen Heimatfotografie wird.
Die Heimatideologie ist ein zentraler Bestandteil
des diktatorischen „Ständestaates“. In den 1930er
Jahren taucht dieser Kampfbegriff des Regimes in
Landschaft, Berge, Brauchtum ·
Heimatfotografie in den 1930er Jahren 27
vielfältigen Bedeutungsvarianten und Verwendungs-
weisen auf. Als heimatlich gilt all das, was zu den
emotionalen Kernzonen des neuen, konservativen
Staatsbildes gehört: die heimatliche Landschaft zual-
lererst, die vom Großglockner bis zur Wachau reicht,
nicht aber bis zu der bisher von den Sozialdemokra-
ten beherrschten Metropole Wien. Das heimatliche
Land bildet den ideologischen Gegensatz zur Stadt,
die politisch anrüchig und potenziell gefährlich ist.
Zur Heimat werden auch Brauchtum und Tracht
geschlagen, die Geschichte und ihre Traditionen,
etwa die Zeit des Barock und vor allem die Epoche
der Habsburger, die in den 1930er Jahren ein vom
Austrofaschismus sorgsam inszeniertes Revival fei-
ert. „Heimat“ ist also weit mehr als ein kurzfristig
ausgegebenes politisches Motto. Vielmehr handelt
es sich um ein symbolisch dicht besetztes ideologi-
sches Konzept, um eine kollektive Gesinnung, eine
Haltung, eine politische Kultur, die den Einzelnen mit
der staatlichen Gemeinschaft verbindet.
Die Regierung unternimmt zahlreiche Anstrengun-
gen, um das Konzept der „Heimat“ zum tragenden
Baustein der Staatsideologie zu machen. Im Schuljahr
1935 etwa schreibt die niederösterreichische Landes-
regierung in den Schulen einen groß angelegten pat-
riotischen Aufsatzwettbewerb aus.4 Weder Zeitpunkt
noch Thema sind zufällig gewählt. Vor gut einem Jahr,
im März 1934, hat das autoritär regierende christ-
lichsoziale Regime nach einem blutigen Bürgerkrieg
die letzten Bastionen ihrer Gegner erobert. Sozialde-
mokratie, Gewerkschaftsbewegung, freie Presse und
jede andere Form von Opposition sind nun in ganz
Österreich ausgeschaltet. Die Umgestaltung zum dik-
tatorischen „Ständestaat“ ist inzwischen praktisch ab-
geschlossen. Im neuen Regime haben, so will es die
Regierung, die Schulen die Aufgabe, Übungsanstalten
in patriotischer Gesinnung zu sein.
Das Thema des Wettbewerbs lautet: „Heimaterde
wunderhold“. Das Zitat ist der zweiten Zeile der neuen
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang