Seite - 419 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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Am 1. September 1939 überfallen deutsche Trup-
pen Polen. Der Zweite Weltkrieg beginnt. Eine Woche
später, am 7. September, wendet sich die Chefredak-
tion des Interessanten Blattes (die in der nationalsozi-
alistischen Diktion längst „Schriftleitung“ heißt) an
ihre Leser. „In ereignisschweren, schicksalhaften Ta-
gen erscheint mit dieser Folge das ‚Interessante Blatt‘
in der bisher bekannten Form zum letzten Male. (…)
Mit dem Anbruch einer neuen Zeit für unser Volk
haben sich auch die Bedürfnisse des Einzelnen ge-
wandelt. Zusammen mit unserer Schwesterzeitschrift
‚Wiener Bilder‘ wird das ‚Interessante Blatt‘ von nun
an als große, den Problemen der Gegenwart aufge-
schlossene, in modernem, zeitnahem Geist geführte
Illustrierte, als ‚Wiener Illustrierte. Das interessante
Blatt‘ erscheinen. Dadurch war nicht nur eine bedeu-
tende Preisherabsetzung möglich, sondern ergaben
sich für die Schriftleitung auch Umstände, die eine
umfassende Ausgestaltung sowohl in bildlicher wie
textlicher Hinsicht gestatteten. Wir hoffen, daß alle
unsere Freunde, die uns, wie wir wissen, oft durch
Generationen die Treue gehalten haben, sich auch der
großen Lesergemeinde der ‚Wiener Illustrierten‘ mit
der gleichen Anhänglichkeit einreihen werden. Die
Schriftleitung“1
In dieser pathetischen Ankündigung wird nicht
nur der Kriegsbeginn angesprochen, die „ereignis-
schweren, schicksalhaften Tage“, sondern auch die
Zusammenlegung mit der „Schwesterzeitschrift“
Wiener Bilder. Diese erscheint am 10. September
1939 zum letzten Mal.2 Diese einschneidenden Ver-
änderungen, die Fusion mit den Wiener Bildern, die
Umbenennung und die Umgestaltung des Interes-
santen Blattes, das inzwischen seit knapp 60 Jahren
erscheint, werden nicht zufällig zu Kriegsbeginn um-
gesetzt. Ziel des grundlegenden gestalterischen Ein-
griffs ist es, die Zeitung für ihren Auftritt auf dem
großen reichsdeutschen Pressemarkt fit zu machen
und, angesichts des einsetzenden Krieges, ihre propa-
Den Krieg vor Augen ·
Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 30
gandistische Schlagkraft im Interesse des Regimes zu
stärken. Wenn man das äußere Erscheinungsbild des
Interessanten Blattes, das bis zuletzt nicht auf die an-
tiquierte Titelvignette verzichten wollte, mit dem neu-
en Umschlag (Abb.
1) vergleicht, wird schnell klar,
dass die Zeitung einer radikalen Modernisierung
unterzogen wird. Sie holt damit aber im Grunde nur
eine Entwicklung nach, die die meisten führenden
deutschen Illustrierten längst hinter sich haben.3 Der
Titel steht nun frei auf weißem Grund, der alte Titel
Das interessante Blatt ist zum Untertitel degradiert.
Darunter wird das jetzt fast seitenfüllende Foto plat-
ziert, das sich ganz in den Dienst der nationalsozia-
listischen Sache stellt.
Die radikale Modernisierung des Interessanten
Blattes ist kein isoliertes Ereignis, sondern steht im
größeren Kontext der nationalsozialistischen Herr-
schaftspolitik und Ideologie, die nicht nur archaische,
sondern auch moderne Elemente in sich vereint. So
setzt etwa die nationalsozialistische Medienpolitik,
zumindest in Fragen der Gestaltung, durchaus auf
moderne Lösungen. Bei zahlreichen österreichi-
schen Zeitschriften und Zeitungen, die nach 1938
unter nationalsozialistischer Kontrolle stehen, lässt
sich eine grafische Modernisierung nachweisen. Be-
reits im April 1938 wird das Erscheinungsbild des
bisherigen Propagandablatts des „Ständestaates“,
der Österreichischen Woche, erneuert. Sie erhält nun
den mit der neuen Ideologie kompatibleren Titel Ost-
mark-Woche (Abb.
2).
Mitte Juni 1938, also gut ein Jahr vor der Fusion
mit dem Interessanten Blatt, werden auch die Wiener
Bilder einem Relaunch unterzogen.4 Der grafisch ge-
staltete Zeitungskopf entfällt, ebenso verschwinden
der Hinweis auf den Gründer Vinzenz Chiavacci so-
wie der Untertitel Illustrierte Wochenschrift von der
Titelseite. Das Aufmacherfoto, das nun die gesamte
Seite einnimmt, wird deutlich aufgewertet. Auch im
Innenteil macht sich die Modernisierung bemerkbar.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang