Seite - 145 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Bild der Seite - 145 -
Text der Seite - 145 -
145
Mitten im Ersten Weltkrieg, Ende 1917, Anfang
1918, kehrt der Wiener Schriftsteller und Journalist
Alfred Polgar in seiner Erinnerung zurück in die Zeit
vor dem Krieg. Und diese ist für ihn, so berichtet er
in einem Feuilleton, unauflöslich mit süßen Bildern
aus ausländischen Illustrierten verknüpft. In Gedan-
ken taucht er noch einmal ein in diese wunderbar ge-
schönte Welt der Schauspielerinnen und Sporthelden.
Im Vergleich zur propagandistischen Kriegsberichter-
stattung ist für ihn diese Welt um nichts verlogener.
„Das letzte Mal sah ich ‚La Vie Parisienne‘ im Juli
1914. Sie war tags zuvor gekommen, und ihr satinier-
tes Papier glänzte noch unbefleckt von Leserfingern.
(…) An jenem Tag sah ich auch, und gleichfalls zum
letzten Mal ‚Le Rire‘. (…) Da kamen ‚London News‘
und ‚The Sketch‘ und ‚Daily Graphic‘, festtäglich bunt
und blättrig-üppig. Schauspielerinnen mit Engelsge-
sichtern und Ringellocken bis zu den polierten Schul-
tern lächelten süß. Fußballhelden und Regattensie-
ger, den Hochmut des Weltrekords im Blick, zeigten,
armverschränkt, herrlich strotzende Brustkasten und
Beinmuskulaturen. (...) Alles blinkte ganz unmöglich,
ganz lächerlich sauber, glatt und fein. Was für ein
süßer Kitsch! Was für ein verlogener Kitsch! Aber
war der süße Kitsch nicht immer noch schöner als
jetzt der blutige. Was ist unwahrscheinlicher: Post-
kutschen, oder ‚Flammenwerfer in Tätigkeit‘? Land-
schaften in Lichtrosa und Himmelblau, oder ‚Granat-
trichterfeld‘?“1
Die faszinierende Welt der ausländischen Illus-
trierten, die Polgar beschwört, gehört der Vergan-
genheit an. Seit August 1914 sind die Zeitungen und
Zeitschriften des „feindlichen Auslands“ in Öster-
reich, aber auch in Deutschland geächtet, damit sie
der militärisch-patriotischen Berichterstattung der
heimischen Blätter nicht in die Quere kommen. Das
Publikum, so verordnet die Militärführung, hat sich
mit österreichischen und deutschen Presseerzeugnis-
sen sowie solchen des neutralen Auslands zu begnü-
Im Schatten der Konzerne ·
Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 13
gen. Wäre Alfred Polgar nach dem Krieg noch einmal
auf das Thema zurückgekommen, hätte er feststel-
len müssen, dass die französischen und englischen
Illustrierten, die er so sehr liebte, nach 1918 nicht
wieder zurückkehrten. In den Monaten nach dem
Kriegsende, da – vor allem in den Städten – Erschöp-
fung, Not und Hunger herrschen, will sich niemand
den Luxus ausländischer Magazine und Blätter leis-
ten. Umgekehrt kommt auch keiner der englischen
und französischen Zeitungsgroßhändler auf die Idee,
neuerlich Illustrierte nach Österreich zu liefern. Die
internationalen Vertriebswege sind gekappt, Papier-
not plagt auch die Verlage in Frankreich und England.
Österreich ist, nach dem Zerfall der Monarchie, ein
verarmter, politisch gebeutelter Kleinstaat, der als
Absatzgebiet für internationale Zeitungen und Zeit-
schriften wenig attraktiv ist.
Ein Blick hinter die Kulissen
Die Jahre von 1918 bis etwa 1923 sind, was die
Presse betrifft, von Unsicherheit, Abwarten und vor-
sichtiger Anpassung an die neuen Zeichen der Zeit
gekennzeichnet. Zwar wird in der unmittelbaren
Nachkriegszeit, in der Euphorie über das Ende von
Militärherrschaft und Zensur, aber auch im Speku-
lationsfieber der Inflationszeit (der Höhepunkt fällt
in die Jahre 1921/22) eine Reihe neuer Tages- und
Wochenzeitungen gegründet (von denen manche bald
wieder verschwinden). Im Bereich der illustrierten
Wochenpresse stellt sich die Situation aber etwas an-
ders dar. Die Flaggschiffe der Vorkriegszeit, Das inte-
ressante Blatt (Abb. 1) und die Wiener Bilder (Abb. 2),
werden auf den ersten Blick ohne größere Brüche und
zunächst ohne größere unmittelbare Konkurrenz wei-
tergeführt. Die beiden Zeitungen beherrschen auch in
den 1920er und 1930er Jahren den österreichischen
Markt. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich,
dass der Medienkonzern in der Rüdengasse 11 in den
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang